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Aus geringem Bestand zum respektablen Ensemble

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Die Staatskapelle Weimar feierte im Mai ihr 400-jähriges Jubiläum · Von Wolfram Huschke
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Die Staatskapelle Weimar feierte im Mai ihr 400-jähriges Jubiläum, inmitten herangereifter Überlegungen zur nachhaltigen Finanzierbarkeit von Nationaltheater und Kapelle. Klare Festlegungen zu einer gesicherten Zukunft des über 500 Jahre alten Klangkörpers sind auch deshalb dringlich geboten, weil eine gern übersteigert kolportierte Unsicherheit die vorhandene Unsicherheit verstärkt, mit der Gefahr einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Allen Unkenrufen zum Trotz: Thüringen wird sein Qualitäts-Orchester weder aufgeben noch relativieren.

Die Staatskapelle Weimar feierte im Mai ihr 400-jähriges Jubiläum, inmitten herangereifter Überlegungen zur nachhaltigen Finanzierbarkeit von Nationaltheater und Kapelle. Klare Festlegungen zu einer gesicherten Zukunft des über 500 Jahre alten Klangkörpers sind auch deshalb dringlich geboten, weil eine gern übersteigert kolportierte Unsicherheit die vorhandene Unsicherheit verstärkt, mit der Gefahr einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Allen Unkenrufen zum Trotz: Thüringen wird sein Qualitäts-Orchester weder aufgeben noch relativieren.Wieso eigentlich 400-jähriges Jubiläum bei einem Alter von über 500 Jahren? Was wurde gefeiert? Im August 1602 wies Herzog Johann von Sachsen-Weimar den Altenburger Hofprediger Abraham Lange an, seine Hofkapelle nach Weimar zu schicken. Als jüngerer Bruder des in Weimar residierenden Herzogs hatte er bisher in Altenburg Hof gehalten. Dort war in den 1590er-Jahren eine kleine vokal-instrumentale Kapelle entstanden. Sein älterer Bruder war gestorben und er Herzog in Weimar geworden. Er ließ also seine Kapelle nachkommen. Erst von nun an war sie hier sesshaft: Wir feiern 2002 das 400-jährige Jubiläum ihrer Sesshaftigkeit in Weimar. Damit begann 1602 das dritte Kapitel in der Kapellen-Geschichte.

Im ersten Kapitel (1491–1547) war sie das prächtige vokal-instrumentale Ensemble eines reichen kurfürstlichen Hofes mit mehreren Residenzen (auch Weimar) gewesen, eine der führenden Kapellen in Europa, immer dort musizierend, wo der Kurfürst gerade war. Im zweiten Kapitel (1552–1602) war sie nach der vernichtenden Niederlage der ernestinischen Kurfürsten im Schmalkaldischen Krieg (1547) eine auf Weimar konzentrierte kleine Hofkapelle, 1573 wieder aufgelöst mit anschließender jahrzehntelanger Absenz.

Ihr drittes Kapitel (1602-1661) wird hinsichtlich eines Jahres aus dem Dunkel musikhistorischer Namenlosigkeit gerissen: 1615/16 war der große deutsche Komponist Johann Hermann Schein Kapellmeister des kleinen vokal-instrumentalen Ensembles, bevor er in das reiche Leipzig weiterzog. Seine frühen Sammlungen weltlicher und geistlicher Vokalwerke wird er in Weimar ebenso musiziert haben wie seine hier entstandene Suiten-Sammlung „Banchetto musicale“. Dreißig Jahre später war der Dresdner Hofkapellmeister Heinrich Schütz mehrfach in Weimar, unter anderem um ein Auftragswerk aufzuführen. Unter Herzog Wilhelm IV., regierend zwischen 1626 und 1662, war die Hofkapelle aus geringem Bestand allmählich zu einem respektablen Ensemble gewachsen. Der musikliebende und -ausübende Herzog, als Förderer der Künste und Wissenschaften das große Vorbild seiner Nachfahren, wandte ihr viel Aufmerksamkeit zu. Als nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges auch das 1618 abgebrannte Residenzschloss („Hornstein“) neu aufgebaut werden konnte („Wilhelmsburg“) – die Schlosskirche war schon 1630 neu erstanden –, hatte die Hofkapelle die Räumlichkeiten wieder um sich, in denen sie auch jenseits der kirchlichen Sphäre ihre Kunst zur Wirkung bringen konnte. Der Herzog starb 1662, die Kapelle wurde aufgelöst. Erst seine Enkel knüpften 1683 an sein Wirken an.

Das vierte Kapitel (1683–1735) sieht in den 1690er-Jahren mehrere bedeutende Musiker nach Weimar kommen: den Gamben-Virtuosen August Kühnel, den Sänger und Kapellmeister Georg Christoph Strattner, den Violinvirtuosen (und Sprachenlehrer) Johann Paul von Westhoff. Zwischen 1696 und 1700 ereignet sich im Schloss-theater der Auftakt eigenständiger Opernpflege nach dem Vorbild benachbarter Höfe (Weißenfels). 1703 ist der 18-jährige Johann Sebastian Bach sechs Monate in Weimarer Diensten, als Cembalist und Geiger in der Kammermusik des jüngeren Bruders des regierenden Herzogs, im Roten Schloss. 1708 kommt er unter für ihn sehr guten Bedingungen als Hoforganist für nahezu ein Jahrzehnt zurück und entwickelt sich hier zu dem großen Komponisten von Instrumentalmusik und Kantaten weiter, als den wir ihn verehren. In Weimar werden seine beiden großen Söhne Wilhelm Friedemann und Carl Philipp Emanuel geboren. Im Oktober 1717 erlebt er den triumphalen Erfolg im Dresdner „Wettstreit“ mit dem abgereisten Marchand, im November wird er in Weimar zum Abschied vier Wochen lang arrestiert. Er hatte den Vertrag als Köthener Kapellmeister unterschrieben, ohne in Weimar zu kündigen und wurde nun auf besondere Art festgehalten – auch Ausdruck der Querelen zwischen Herzog Wilhelm Ernst und seinem mitregierenden Neffen Ernst August, die sich wenig später zum „Krieg“ um die Hofkapelle auswuchsen. Nach dem Tod des Ersteren 1728 bildete Letzterer die Kapelle um und löste sie 1735 ganz auf. Wenige Musiker blieben, Geige und Trompete spielen konnte er selbst.
20 Jahre später begann das fünfte Kapitel der Kapellen-Geschichte (1756–1819) am Hof Ernst Augusts II. Constantin und Anna Amalias. Die Kapelle wurde wiedergegründet und Theater-Ambitionen realisiert. Der frühe Tod des Herzogs 1758 und der Siebenjährige Krieg ließen das Begonnene erst ab 1768 fortsetzen, mit dem Höhepunkt der Uraufführung der Oper „Alceste“ von Christoph Martin Wieland und Anton Schweitzer im Mai 1773. Ein Jahr später brannten das Schloss und das Theater ab. Erstaunliches geschah: ein Liebhabertheater um Bertuch und Goethe setzte die Theaterarbeit fort. Nach dem abermaligen Engagieren einer Theatertruppe 1784 wurde dies in die Gründung des Weimarer Hoftheaters unter Goethes Leitung 1791 transformiert. Immer war die Hofkapelle mit von der Partie: vor und in den Zwischenakten der Schauspiele, in Singspielen und Opern, in Hofkonzerten.

Eine vorzügliche Mozartpflege gehört in den 1790er-Jahren zu den Glanzlichtern der neuen Bühne, bevor die „Sängerherrschaft“ der Mätresse Carl Augusts, Caroline Jagemann, um 1800 begann und noch Hummel die Arbeit schwer machte, der 1819 als Hofkapellmeister nach Weimar kam. Mit ihm als dem berühmten ersten „Chefdirigenten“ des Orchesters beginnt das sechste Kapitel (1819–1861), das 1848/58 in der „Ära Liszt“ kulminiert. Weimarer Musikereignisse interessieren hier die Welt, „Neu-Weimar“ findet weltweiten Widerhall: die Opern Wagners, die Werke Berlioz’ und Liszts, das Leben in der „Altenburg“, die Auseinandersetzungen bis hin zum Premieren-Skandal um Cornelius’ Oper „Der Barbier von Bagdad“. Das Siebte (1861–1898) wird von Liszt-Schülern geprägt, zunächst von Eduard Lassen, ab 1867 dazu von Carl Müllerhartung. Müllerhartung dominiert ab Mitte der 1870er-Jahre die seit 1859 existierenden Abonnementskonzerte. Er bringt dazu immer zirka 20 Schüler der von ihm 1872 gegründeten Orchesterschule mit – die Kapelle besteht nach wie vor aus 40 Musikern. Nachdem der Liszt-Schüler Hans von Bronsart, seit 1887 Weimarer Generalintendant, Müllerhartung zur Aufgabe seiner Theateraufgaben bewogen hat, kommt Richard Strauss als Zweiter Kapellmeister hierher. In fünf ereignisreichen Jahren profiliert er sich, das Orchester und das Theater. Als er Weimar 1894 verlässt, ist seine Karriere an die Spitze des deutschen Musiklebens nicht mehr aufzuhalten. Um die Nachfolge des Generalmusikdirektors Eduard Lassen streiten sich 1895 drei Liszt-Schüler erbittert: Eugen d’Albert geht verstimmt von dannen, Hans von Bronsart wird in den Ruhestand gedrängt, Bernhard Stavenhagen wird Nachfolger, scheitert aber schon drei Jahre später an dem ihn wenig interessierenden Musiktheater.

Im 20. Jahrhundert prägten zwei namhafte Chefdirigenten – Peter Raabe 1907/20, Ernst Praetorius 1925/33 – die Kapelle, bevor Staatskapelle und Nationaltheater von der „Clique Ziegler“ beherrscht und als nazistische Vorzeige-Bühne instrumentalisiert wurden. Generalintendant Hans Severus Ziegler und GMD Paul Sixt ließen dies in der Hetzausstellung „Entartete Musik“ von 1938 kulminieren. 1945 fiel das zum Rüstungsbetrieb umfunktionierte Theater zerbombt in Trümmer.

In der „Weimarhalle“ begann im Juli 1945 wieder der Konzert- und Theaterbetrieb und damit das neunte Kapitel der Kapellengeschichte. Bald war Hermann Abendroth hier Chefdirigent, die zweite „Ära“ nach der Liszts war die „Ära Abendroth“ (1945/56). Ein Glücksfall sondersgleichen. Das etwa 65 Musiker umfassende Orchester gehörte unter Abendroth zu den deutschen Spitzen-Orchestern. Seine Nachfolger versuchten dies mit unterschiedlicher Fortune fortzusetzen: Gerhard Pflüger, Lothar Seyfarth, Rolf Reuter, Peter Gülke, Oleg Caetani, Hans-Peter Frank, George Alexander Albrecht.

In Europa angekommen, ist Europa der Maßstab. Und die Sorge groß, wie die bemerkenswerte Qualität weiterzutragen sein wird. Ich denke: unbeirrt im Sinne Liszts und Abendroths, im Sinne einer seltenen Identität, einer großen Tradition. Oder?

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