Im kommenden Jahr streicht der Deutsche Musikrat auf Beschluss seines geschäftsführenden Präsidiums die Mittel zur Förderung Neuer Musik aus Geldnot erheblich zusammen. Der Komponist Klaus Hinrich Stahmer liefert Argumente für den Erhalt der Landschaft.
Die Ensembles für Neue Musik erfüllen durch ihre Vernetzung mit den Interessen von Komponisten, Verlegern, Rundfunkanstalten und Veranstaltern eine wichtige Aufgabe im Musikleben der Gegenwart. Wenn deren Zukunft nicht gesichert wird, bricht ein zentraler Teil im aktuellen künstlerischen Schaffen unserer Zeit weg. Als ausführende Klangkörper sind sie zur klanglichen Realisation von Partituren unverzichtbar. Ohne solche Interpreten ist lebendige Erfahrung zeitgenössischer Musik unmöglich. Alle Komponisten sind auf deren Existenz angewiesen. Mit ihrer qualitativ extrem hoch stehenden Arbeitsleistung haben die in der Bundesrepublik ansässigen Ensembles für Neue Musik weltweit den guten Ruf unseres Landes als Paradiesgarten der Neuen Musik begründet. Klangkörper wie das repräsentative Ensemble Modern, dessen Name hier stellvertretend für alle anderen hochkarätigen Ensembles genannt wird, bürgen nicht nur im Ausland für ein Niveau von Aufführungspraxis, das in dieser Form von ganz wenigen erreicht oder überboten wird. So etwas hatte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs Magnetwirkung auf Komponisten und Instrumentalisten aller Kontinente und führte zur Ansiedelung von interessanten Vertretern in Deutschland, ohne deren Beiträge das Musikleben unseres Landes hoffnungslos ärmer wäre. Diese geistige Vielfalt kann nur gewahrt bleiben, wenn es weiterhin Musiker gibt, die sich zur Auseinandersetzung mit dem Ungewohnten und Gewöhnungsbedürftigen bereit erklären.Man kann von rund 100 qualitativ hochstehenden Ensembles für Neue Musik ausgehen, deren Arbeit ein echter Wirtschaftsfaktor ist. Nach zuverlässigen Unterlagen haben innerhalb von Deutschland die Ensembles für Neue Musik in ihrer Größenordnung von drei Spielern bis hin zur Größe eines Kammerorchesters in einem Spitzenjahr (1995) in rund 32.000 Aufführungen 10.000 verschiedene Kompositionen der Gegenwart zur Aufführung gebracht. Dass diese Zahlen tendenziell eher noch höher für eine erfolgreiche Tätigkeit der Ensembles anzusetzen sind, geht aus der „Dunkelziffer“ der von einzelnen Veranstaltern nicht gemeldeten Aufführungen hervor.
Die Ensembles für Neue Musik stehen für moderne Technologie, die überall dort eingesetzt werden, wo es um neuartige Instrumente und Spieltechniken, Elektronik und vertrackte Satzstrukturen bis hin zum Spiel ohne Dirigenten geht. Aufgeschlossen für ungewöhnliche Aufgaben, haben sich Gruppen zusammengefunden, denen die Erschließung neuer Hörergruppen und ungewöhnlicher Spielstätten ebenso am Herzen liegt, wie die Erarbeitung innovativer Partituren in Zusammenarbeit mit deren Autoren. Parallel zu den Entwicklungen im modernen Film, im experimentellen Tanz-theater und in der bildenden Kunst haben sich innerhalb der Neuen Musik ganz besondere Aufführungs- und Vermittlungsformen herauskristallisiert, bei denen Live-Elektronik und Computer ebenso unverzichtbar geworden sind wie alle Arten multimedialer Aufführungsformen. Auf diesem Fundus aufbauend konnten die Komponisten ihrer Kreativität freien Lauf lassen und Schlüsselwerke schaffen, die gültiger Ausdruck unserer Zeit sind. Wenn die-se Entwicklung kaputt gespart wird, verkommt der Konzertsaal konkurrenzlos und hoffnungslos zum Museum. Das Publikum kann nicht mehr hören und erfahren, was heutzutage musikalisch passiert und wird von der geistigen Entwicklung abgeschnitten. Moderne Bilder kann man im Museum sehen, aber moderne Klänge kann man nur hören, wenn es die dafür erforderlichen Interpreten gibt. Ein Wegfall solcher Spezialisten lässt Deutschland von seiner internationalen Spitzenposition zum Entwicklungsland werden.