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Bedingungslose Pluralität, kritische Reflexion

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Bonaventure Soh Bejeng Ndikung stellt seine Agenda für das Haus der Kulturen der Welt vor
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Das Berliner Haus der Kulturen der Welt (HKW), eine Einrichtung unter dem Dach der Kulturveranstaltungen des Bundes in Berlin hat nach 17 Jahren Dämmerschlaf in der Globalismusblase des Ende 2022 ausgeschiedenen Intendanten Bernd Scherer eine neue Leitung: Der vielseitige und diskussionsfreudige Kunstkurator Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, den seine Mitarbeiter bereits liebevoll Bona nennen und der in seiner Antrittsrede beim Presse-Event vor geschätzt 700 Zuhörern eine große und warmherzige Vision entwarf.

In seiner „Ruckrede“ des Verstehens und Respektierens zwischen den Kulturen fordert Ndikung von sich selbst, seinem Team und dem HKW, zu üben, die Verschiedenheit der Lebenswelten anzuerkennen und die Diktatur der Moderne, die alles aus einer einzigen Sicht bewertet und abtut, zu beenden. Welt sei nicht als Konstante zu betrachten, sondern als ein Prozeß von „ständiger Veränderung und Anpassung“. Er schlägt vor, „Pluriversalität“ an die Stelle von Universalität zu setzen. Das HKW werde in den kommenden Jahren sichtbar und in beispielhafter Form – und mit neuen Begriffen – diese offene Fragestellung kultivieren.

Das rührt unausgesprochen an die derzeitige Abwesenheit von klassischen, also traditionellen Musikformen nichteuropäischer Kulturen im Musikleben Deutschlands, besonders Berlins. Westlicher Dünkel hält von jeher die eigene Musik und ihre Instrumente denen der anderen Kulturen für überlegen. Das tatsächliche Anders-Sein der gewachsenen Musik anderer Kontinente wird von gewöhnlichen Konzertveranstaltern für unvermittelbar gehalten und mit tiefer Skepsis betrachtet. Das Abenteuer, zu verstehen, wie Musik und ihre vermeintlich primitiven Instrumente einander bedingen und wie als Ausdruck und Praxis menschlicher Erkenntnis und Erfindung andere Tonalitäten entstehen, wird ins Abseits gedrängt.

Wie sich die von Ndikung und seinem Team beschriebene humanistische Agenda im Musik-Programm niederschlagen wird, kann jetzt noch nicht vorausgesagt werden. Das HKW eröffnet das Haus am 2. Juni, und die erste Musikveranstaltung am 15. Juli dreht sich um Polyrhythmik. Klar scheint, dass das Haus der Kulturen der Welt auch in Zukunft kein Konzertveranstalter sein wird, der, wie in seinen ersten Jahrzehnten, einfach ein vielfältiges Programm von gehobenem Anspruch bietet. Allerdings ist der neue Anspruch des HKW bedingungslose Pluralität und bedingungsloses kritisches Reflektieren. Dann dürften auch Musiker und Ensembles willkommen sein, die ihr Leben den oft nur mündlich überlieferten Musikformen ihrer Kultur widmen, die, wie etwa viele asiatische Hof-Musiken, zwar fragwürdigen Gesellschaftsformen der Vergangenheit entstammen, für sich genommen aber hohen geistigen Idealen verpflichtet sind.

Die vorige Leitung hatte sich auf derlei Diskussionen gar nicht erst eingelassen und den traditionellen Musiken kein Podium geboten. So ist hier seit 2006 die Konfrontation mit vielen befruchtenden Irritationen der Hörgewohnheiten nicht möglich gewesen. Und wo anders als im Haus der Kulturen der Welt könnte sie stattfinden?

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