Moskau - Für den russischen Starregisseur Kirill Serebrennikow und die Tänzer am Bolschoi-Theater war es ein Schock. An einem Abend meistern sie eine begeisternde Generalprobe des Balletts «Nurejew» über den sowjetischen Startänzer Rudolf Nurejew (1938-1993), am nächsten Tag setzt die Theaterleitung das Stück ab - kurz vor der Weltaufführung, die am Dienstag hätte stattfinden sollen.
«Mir fehlen die Worte», schrieb der erschütterte Tänzer Wladislaw Lantratow auf Instagram. «Das Bolschoi beschließt die Saison nicht mit der meisterwarteten Premiere, sondern mit einem beispiellosen Skandal», kommentiert die kritische Moskauer Zeitung «Nowaja Gaseta».
Das Stück sei nicht aufführungsreif gewesen, sagte Generaldirektor Wladimir Urin. Doch die Gründe dürften woanders liegen: Bei «Nurejew» kam alles zusammen, was derzeit in der orthodox-konservativen und nationalistischen russischen Kulturpolitik unter Präsident Wladimir Putin Anstoß erregen kann.
Da war die Emigration der Ballettlegende Nurejew, seine Homosexualität, die Thema auf der Bühne werden sollten. Und da war Serebrennikow, Liebling des Moskauer Publikums und der internationalen Theaterwelt, bekennender Schwuler und standhafter Kritiker der Zustände in Russland.
Vorsorglich hatte das Bolschoi die Aufführung mit einer Altersbegrenzung ab 18 Jahren versehen. Es ist in Russland verboten, gegenüber Kindern und Jugendlichen Homosexualität zu erwähnen, weil dies angeblich Propaganda dafür macht. Nebenbei gestand Urin ein, dass hier wohl die Gründe für die Absetzung zu suchen seien: «Mir war sehr bewusst, dass dieses Thema vorkommen würde, das bei vielen Leuten Unverständnis hervorruft.»
Die Moskauer Führung hat das Bolschoi-Theater als wichtigste Bühne des Landes schon immer an der kurzen Leine gehalten, politische Eingriffe gab es auch früher. In den 1930er Jahren wurde das Ballett «Der Bolzen» von Dmitri Schostakowitsch verboten. Später passte der sowjetischen Kulturministerin Jekaterina Furzewa das tragische Ende der «Schwanensee»-Choreografie von Juri Grigorowitsch nicht. «Aber selbst in der totalitären Sowjetunion gab es so etwas nicht drei Tage vor der Premiere», schrieb die «Nowaja Gaseta».
Serebrennikow ist auch in Deutschland bekannt und soll im Herbst in Stuttgart die Märchenoper «Hänsel und Gretel» inszenieren. Mit der Absage verpassten die Behörden ihm den zweiten Nackenschlag binnen weniger Wochen. Im Mai durchsuchten Ermittler seine Hausbühne, das Moskauer Gogol-Theater. Er wurde mehrere Stunden lang verhört, weil eine von ihm gegründete Firma staatliche Gelder unterschlagen haben soll.
Eine zugesagte Inszenierung von Shakespeares «Sommernachtstraum» sei nie auf die Bühne gekommen, behaupten die Fahnder. Der prominente Regisseur ist bislang offiziell nur Zeuge, aber gegen drei Mitarbeiter wurde Untersuchungshaft oder Hausarrest verhängt.
Sein Leben verlaufe derzeit zwischen «einem Theaterstück, das es nicht geben wird» und «einem Theaterstück, das es nicht gegeben hat», sagte Serebrennikow zum Saisonschluss des Gogol-Theaters. Seine Schauspieler lachten bitter - sie hatten soeben zum wiederholten Mal jenen nicht existierenden «Sommernachtstraum» gespielt.
Russische Künstler müssen sich immer wieder gegen Attacken wehren. So laufen Orthodoxe und Monarchisten Sturm gegen den Film «Matilda» von Regisseur Alexej Utschitel. Erzählt wird die Romanze des Thronfolgers Nikolaus mit der polnischen Ballerina Matilda Kschessinskaja - für die Aktivisten ein Sakrileg, weil der ermordete Zar mittlerweile heilig gesprochen ist. Der Theaterchef Konstantin Raikin löste letztes Jahr eine Debatte über Zensur in Russland aus. Sie sei verboten, aber die Behörden mischten sich offen in die Arbeit ein, sagte er.
Zum Fall «Nurejew» teilte das Kulturministerium mit, Minister Wladimir Medinski und Urin hätten lange darüber gesprochen. «Aber Zensur oder Verbote gehören nicht zum Stil unseres Ministeriums», sagte eine Sprecherin. Urin will das Stück noch nicht aufgeben: Nun soll im Mai 2018 Premiere sein. Und auch Serebrennikow gibt sich kämpferisch: «Die Kunst bleibt. (...) Ein Theaterstück, das es nicht gab oder nicht geben wird, kann existenter sein als alles andere.»