Jetzt ist es amtlich: auch die Berufungsinstanz hat die Klage einer Berliner Rechtsanwältin abgewiesen, mit der diese für ihre Tochter den Zugang zum Staats- und Domchor Berlin erstreiten wollte. Auch bei den Thomanern hatte sie dies versucht und ihr „Fall“ wurde in mindestens zwei recht hohen Wellen breit und ausführlich diskutiert: unter stimmphysiologischen, klanglichen, künstlerischen, gesellschaftlichen und juristischen Gesichtspunkten.
Ich lege mich fest: Das Gerichtsurteil ist vor allem auch in seiner Begründung, die hauptsächlich auf die Kunstfreiheit abzielt, richtig. Es muss einem Chorleiter als Künstler möglich sein, ein bestimmtes Klangideal mit genau den Stimmen erreichen zu wollen, die dieser künstlerisch-ästhetischen Vorstellung entsprechen, und es muss ihm möglich sein, dafür nicht geeignete Stimmen auszuschließen. Es ist dabei auch vollkommen egal, ob der klangliche Unterschied zwischen Mädchen- und Knabenstimmen wissenschaftlich begründbar ist oder ob er bei gutem Willen und mit entsprechender Kompetenz durch stimmbildnerische Arbeit auszugleichen wäre – selbst wenn dieser Unterschied einfach nur eingebildet wäre: er darf aus künstlerischer Freiheit heraus gemacht werden, solange…
… ja solange er nicht vorgeschoben ist. Das ist der erste springende Punkt beziehungsweise das erste springende *chen. Denn selbstverständlich stellt sich die berechtigte Frage, ob hier ein Mädchen aufgrund seines Geschlechtes diskriminiert wird. Dies wäre ohne Zweifel der Fall, wenn ihm bei gleicher Eignung ein Junge vorgezogen würde oder wenn es tatsächlich nur aufgrund seines Geschlechtes abgelehnt worden wäre. Die Mutter mutmaßte dies sowohl vor als auch nach dem erstinstanzlichen Urteil – der Chorleiter konnte aber nach Auffassung des Gerichtes glaubhaft begründen, dass es ihm tatsächlich um die stimmliche, speziell die klangliche Eignung des Mädchens für seinen Chor ging. Am Ende konnte und kann keine Seite zweifelsfrei beweisen, dass das eine oder das andere stimmt – wir bewegen uns im Bereich von nicht belegbaren Einschätzungen und Überzeugungen.
Das zweite springende *chen ist aber die Frage nach einem gleichberechtigten Zugang zu Bildungseinrichtungen und Bildungsmöglichkeiten für alle Geschlechter – weiblich, männlich und divers. Juristisch ist der Fall des Berliner Mädchens mit der Entscheidung zugunsten der künstlerischen Freiheit erledigt, gesellschaftlich jedoch beginnt er hier erst interessant zu werden. Die klagende Mutter hat hiermit nämlich völlig Recht: Wenn der Staat Geld in die Hand nimmt, um eine Bildungseinrichtung zu finanzieren, dann muss dieses Geld vorbehaltlos allen vor dem Grundgesetz gleichen Menschen, also auch allen Kindern zugutekommen. Man muss also bei der Bewertung des Urteils scharf trennen: der Richter hatte diese Frage (leider) nicht zu entscheiden; es ging um eine spezielle Institution und die Frage, ob diese das Mädchen aufnehmen muss oder ablehnen darf. Logisch weiter gedacht, wäre es spannend, eine Klage zu verfolgen, die für jeden in einen Knabenchor investierten Euro einen für einen Mädchenchor einfordert, für jedes Mädcheninternat den Aufbau eines Jungeninternates und natürlich bei beiden einen pädagogisch verantworteten Zugang für diverse junge Menschen et cetera. Das führt zum Kern: Junge Menschen haben zwar, siehe Berlin, nicht unbedingt ein Recht auf ‚denselben‘ Zugang zu Bildung, aber sehr wohl haben sie eines auf den ‚gleichen‘ Zugang, vor allem auf einen gleichwertigen.
Daraufhin muss unser gesamtes Bildungssystem immer und immer wieder überprüft werden: das Recht auf einen gleichberechtigten Zugang zu gleichwertiger Bildung für alle Menschen. Weder Geschlecht noch Hautfarbe noch Herkunft noch politische Gesinnung oder Einkommen der Eltern noch Religionszugehörigkeit dürfen ein Grund dafür sein, dass Kinder und Jugendliche weniger Chancen auf ein freies, selbstbestimmtes Leben und auf volle Entfaltung ihrer Persönlichkeit haben als andere. Es wird niemandem schwerfallen, besonders im Bereich musischer Bildung und kultureller Teilhabe spontan mehrere Beispiele aufzuzählen, in Anbetracht derer es diesbezüglich noch viel zu tun gibt. Das Knabenchorsänger*innen-Problem wird hier zur Randnotiz. Ist es nicht der eigentliche Skandal, dass sich Presse und Öffentlichkeit auf diesen Spezialfall kaprizieren, dabei aber völlig außer Acht lassen, dass der barrierefreie Zugang zu musischer Bildung für Kinder schon innerhalb einer Kommune davon abhängt, in welchem Stadtteil die Familie lebt?
Beinahe zeitgleich mit dem Urteil gegen die Verpflichtung zur Aufnahme des Mädchens in Berlin verkündete mit den Regensburger Domspatzen eine weitere kirchliche Einrichtung den Aufbau einer parallelen Struktur für Mädchen. Ob sich nun die katholische Kirche damit an die Spitze einer Gleichberechtigungsbewegung stellen möchte – ich schlage als Motto „Cäcilia 2.0“ vor –, sei dahingestellt. Natürlich geht es dabei auch ganz pragmatisch und der Not gehorchend um Nachwuchs und die Absicherung von Strukturen. Aber dennoch weist das Modell in die richtige Richtung: Der älteste Knabenchor der Welt wird zwar kein koedukativer Chor, bleibt klanglich das, was er immer war, aber Mädchen kommen in den Genuss der gleichen Ausbildungsmöglichkeiten. Ob freilich solche Mädchenformationen ein vergleichbares Renommee erreichen wie die berühmten Knabenchöre und damit auch die Auftritts- und Reisemöglichkeiten, entscheidet am Ende keine strukturelle Vorgabe, sondern die Qualität, die erreicht wird. Und bleiben wir im kirchlichen Bereich: die Mädchenchöre an den Domen von Köln und Essen beweisen, dass die Jungs aufpassen müssen, im Rahmen der Gleichberechtigungsbemühungen nicht unter die Räder zu kommen. Würde der Staat in den allgemeinbildenden Schulen seiner Verantwortung für die Vermittlung von Kunst, Kultur und Musik gerecht, müsste man all das gar nicht diskutieren. Muss man aber leider doch.