Im Rahmen des Deutsch-Türkischen Jahres der Forschung, Bildung und Innovation, das auf einem Regierungsabkommen zwischen Deutschland und der Türkei beruht, fand 2014 eine Reihe von spannenden „Koproduktionen“ in Form von Austausch, Colloquien, Forschungsprojekten und Nachwuchsförderungsvorhaben statt, die alle gemeinsam von deutschen und türkischen Wissenschaftseinrichtungen veranstaltet und gemeinsam finanziert wurden; in Deutschland waren es sechs Projekte aus den Geistes- und Sozialwissenschaften, vier aus dem Bereich Schlüsseltechnologien und drei aus dem Bereich Globaler Wandel.
Beispielhaft für die gewünschte Bandbreite von Wissenschaft bis hin zu Bildung und Praxis entwickelte sich das Projekt „Transfer und Diversität. Musik und Transkulturelle Praxis: Deutschland – Türkei“, das, getragen vom Institut für Musikwissenschaft und Medienwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin und dem Center for Advanced Studies in Musik (MIAM) der Technischen Universität Istanbul (ITÜ), vom 8.–18.10. in Berlin und Istanbul stattfand. Auf der Seite der Wissenschaft waren die relevanten Forscher präsent, die sich mit türkisch-osmanischer Musik und ihrem Verhältnis zu Deutschland befassen (Max Baumann, Bamberg , R.M. Jäger, Münster) sowie Musiker, die jeweils vice versa ihre Musik präsentierten, Instrumentallehrer und Instrumentalisten, die die jeweils anderen Instrumente lehren, Studenten, Lehrer und Schüler – diese selbst „Resultat“ transkultureller Prozesse, die neue Elemente des Transfers in ihrer Unterrichtspraxis erproben. Um die Kernveranstalter – Konzeption und Leitung: die souveräne Jin-Ah Kim von der Humboldt-Universität – reihte sich ein bunter Kranz von Kooperationspartnern wie das Deutsche Orient-Institut Istanbul, der Landesmusikrat Berlin, dessen Präsident Hubert Kolland die Bildungsvertreter betreute, Schulen und Konservatorien.
Klar war, dass die Musiker oder gar die Musikethnologen nicht unter sich bleiben sollten und dies auch nicht wollten; schließlich ist die Themenstellung Kulturtransfer, Diversität, Transkulturalität, transkulturelle Praxis, postmigrantische Entwicklungen noch keineswegs (musik-)wissenschaftlich so hinterfragt, dass nicht unterschiedliche Perspektiven und Fragestellungen nötig wären – und, soll sich dieser Diskurs wie in anderen Bereichen sinnvoll entwickeln, auch nötig bleiben.
Die Breite des binationalen Diskurses lässt sich in Kürze nur durch die Themen der Vorträge und Debatten andeuten: DJane und Musikproduzentin Ipek Ipekçioglu durchforstete ihre eigene Biografie, Markus Wyrwich positionierte sich mit „Popmusik und Orientalismus: eine historische Betrachtung“, der Psychologe Haci-Halil Uslucan befasste sich mit Vorurteilstrukturen, verblüffende Neuigkeiten berichtete Morag Josephine Grant über bilaterale Beziehungen der Militärmusiker, der Aufenthalt von Paul Hindemith in Ankara (Elif Yavuz) sorgte für heftige Diskussionen, Songül Karahasanoglu stellte islamische populäre Musik vor, Lütfü Gültekin erzählte von seinem Leben als Gastarbeiter und Ashik, Martin Greve deutete das immense Musiknetz der Exilanten aus Darsim an, Wendelmoet Hamelink aus Leiden führte in die musikalische und soziale Gegenwart der Menschen im vom Krieg betroffenen Dreiländereck Türkei–Iran–Irak, Suzan Nobrega und Dorothea Kolland warfen einen Blick auf die postmigrantische Kultur in Deutschland, der „Erfinder“ des deutschen Terminus „Transkulturalität“, Wolfgang Welsch, setzte einen theoretischen Rahmen.
Neben vielen weiteren Vorträgen, die alle mehr oder weniger direkt einen Beitrag zum Thema „Musik und Transkulturalität“ lieferten und die in einer Dokumentation zu lesen sein werden, gab es eine Reihe von hochkarätigen Konzerten und zwei heimliche Sub-Themen: die Rolle der Baglama für Neue Musik (mit vielen Workshops mit Künstlern und Schülern), quasi eine Fortsetzung des Baglama-Symposiums des letzten Jahres, und zum Abschluss eine Laudatio-Runde für Ursula und Kurt Reinhard (1914–1979), dem ersten wichtigen Musikethnologen, der zusammen mit seiner Frau türkische Musik sammelte, notierte, analysierte und damit den Grundstein für das besondere Interesse aus Berlin an der Türkei legte. Im Dahlemer Musikethnologischen Museum stellen seine Aufnahmen, Transkriptionen und Dokumentationen einen besonderen, noch kaum gehobenen Schatz dar.