Es ist schon ein Ding aus dem Tollhaus, was da abgelaufen ist. Die Europäische Kommission hat den „anonymen Studiomusiker“ als besonders schützenswertes Individuum ausgemacht und einen auf Betreiben von EU-Kommissar Charlie McCreevy entworfenen „Vorschlag zur Änderung der Richtlinie 2006/116/EG“ angenommen.
Dieser Vorschlag hat die Schutzdauer des Urheberrechts zum Inhalt und versucht die Kommission wortreich auf 23 eng bedruckten Seiten davon zu überzeugen, dass eine Erhöhung der Schutzdauer von Musikaufnahmen von derzeit 50 Jahren auf in Zukunft 95 Jahre das Gebot der Stunde sei: „Wir reden hier über Tausende von anonymen Studiomusikern, die in den späten Fünfzigern bei Herstellung von Schallplatten mitwirkten. Diese Künstler werden bei Auslaufen ihrer Urheberrechte alle Lizenzeinnahmen verlieren“, so ließ McCreevy bereits am 14. Februar in einem Statement verlauten (IP/08/204). „Aha!“ So ist man geneigt festzustellen. Es sind also nicht die „Bigshots“ der Szene, wie die Beatles oder die Rolling Stones, die hier geschützt werden, sondern die „Tausende“ (wohlgemerkt: TAUSENDE – nicht: ZEHNTAUSENDE) von anonymen Studiomusikern. Auf wie viel Nullstellen hinter dem Komma in Bezug auf die europäische Gesamtbevölkerung kommt man da eigentlich?
Und so kreißte nunmehr am 16. Juli die Europäische Kommission in Brüssel wieder einmal tatenschwanger, indem sie nicht nur McCreevys Vorschlag entgegennahm, sondern gleichzeitig auch noch die so genannte CISAC-Entscheidung auf den Weg brachte, in der es den Europäischen Verwertungsgesellschaften an den Kragen geht. Ein Schuft, wer Schlimmes dabei denkt. Ein kausaler Zusammenhang zwischen den beiden Papieren würde wahrscheinlich auch von entsprechender Seite vehement bestritten werden.
Doch der Reihe nach – und der Fairness halber die gute Nachricht zuerst. Gemäß Formulierung im Änderungsvorschlag soll die geplante Schutzfristenverlängerung nicht rückwirkend gelten: „Dieser Initiative zufolge soll die Verlängerung der Schutzdauer für Darbietungen und Tonaufnahmen gelten, deren ursprüngliche Schutzdauer von 50 Jahren zum Zeitpunkt der Verabschiedung der geänderten Richtlinie noch nicht abgelaufen ist. Sie gilt nicht rückwirkend für Darbietungen, die zu diesem Datum bereits gemeinfrei geworden sind“, so kann man auf Seite 15 des Papiers nachlesen. Hunderttausende von europäischen Musikliebhabern müssen demzufolge also nicht befürchten, dass das Angebot an Furtwängler-Aufnahmen oder an frühen Karajan-Einspielungen in Zukunft deutlich geringer ausfallen wird.
Das ist dann aber auch die einzig klare Aussage, die dem Entwurf zu entnehmen ist. Der Rest ist eine Ansammlung von Argumenten, über die Kenner der Szene und des Alltags in der Musikbranche sowie alle musikwissenschaftlich und kulturell Tätigen nur den Kopf schütteln können. Da ist von einem Fonds die Rede, in den Plattenproduzenten einzahlen sollen, um aus den zusätzlich fließenden Finanzmitteln angehende Jungstars zu fördern, oder man liest, dass sich „eine längere Schutzdauer positiv auf die Auswahl des Verbrauchers und die kulturelle Vielfalt auswirken“ (Seite 10). Und erst die „Use-it-or-lose-it“-Klausel – na, die hat’s in sich! Zu Deutsch heißt das nämlich: Gebrauch es – oder verliere es. Das ist nach den Vorstellungen der „europäischen Kulturwächter“ nun das Allheilmittel, das die betreffenden Musiker nun endlich in die Lage versetzen soll, ihre einstmals in Bausch und Bogen verkauften Rechte wieder zu erlangen, wenn die entsprechende Plattenfirma 50 Jahre nach Entstehung und Veröffentlichung einer Aufnahme keinen Gebrauch mehr von ihr macht. Dann, so will es offensichtlich zukünftig das Gesetz, darf der inzwischen in Ehren ergraute Interpret nämlich von der Plattenfirma seine Rechte zurückfordern und im fortgeschrittenen Alter nun selbst Tonträgerproduzent spielen. Dumm nur, dass der Aushilfsgitarrist nicht mehr zu ermitteln ist, der damals – vor einem halben Jahrhundert – die zusätzlichen Riffs für den Song eingespielt hat. Den muss nämlich auch der solchermaßen durch die Gesetzesinitiative beglückte Ex-Schlagersänger ermitteln, wenn er die alte Aufnahme selbst vermarkten will. Gleiches Recht für Alle!
Geht es bei dieser Geschichte nicht doch um ganz etwas anderes? Selbst dieser hier diskutierte Vorschlag an die europäische Kommission gibt an einigen Stellen mehr oder minder offen zu, dass der finanzielle Vorteil der Betroffenen in der Mehrzahl bestenfalls „marginaler Art“ sein dürfte. Warum also dann der ganze Affenzirkus? Und da lohnt sich ein Blick auf den am selben Tag nun in der Tat schon europäische Realität gewordenen CISAC-Entscheid. Die europäische Kommission, in ihrem unendlichen Bestreben, jeder Form von gefühltem Wettbewerbsklüngel den Garaus zu machen, hatte die Verwertungsgesellschaften aufs Korn genommen, beziehungsweise deren bis dato bestehende territoriale Hoheit in Bezug auf die Erhebung von Lizenzen bei öffentlicher Aufführung, mechanischer Vervielfältigung sowie Radio- und TV-Verbreitung von Musikstücken: „Die Gesellschaften, die im Namen von Autoren und Komponisten deren Rechte verwalten, dürfen gewerblichen Nutzern außerhalb ihres Inlandsmarktes Lizenzen künftig nicht mehr verweigern.“ Das bedeutet im Klartext nichts anderes, als dass ein in Europa ansässiger CD-Vervielfältiger sich in Zukunft die europäische Verwertungsgesellschaft für die Lizensierung seiner CD-Veröffentlichung aussuchen kann, die ihm die günstigsten Mindestlizenzen anbietet. Dies bedeutet weiterhin, dass europaweit agierende gewerbliche Nutzer wie RTL oder Music Choice (diese beiden hatten mit einer Klage den Stein ins Rollen gebracht) auch zukünftig mit einer Verwertungsgesellschaft ihrer Wahl kooperieren können und sich nicht mehr mit unterschiedlichen Tarifen herumschlagen müssen. Und an diesem Punkt wird nun wirklich der Lebensnerv vieler musikschöpferisch tätiger Menschen getroffen – und zwar nicht nur der von einigen Musikveteranen, sondern von vielen, die im Zenith ihrer Schaffenskraft stehen, die mit ihrer Arbeit sich selbst und ihre Familien erhalten müssen. Hier trifft es die weniger bekannten Autoren, die oftmals auch Interpreten ihrer Werke sind, genauso wie Dieter Bohlen und Co, die in der Regel alles selbst machen – von der Komposition über die Interpretation, der Produktion bis hin zur Verwertung über eigene Musikverlage: Verwertungsgesellschaften sind Inkassounternehmen – das heißt, dass nach Abzug einer Verwaltungspauschale nur so viel an die ausübenden Künstler ausbezahlt werden kann, wie eingenommen wird. Der nun abzusehende Konkurrenzkampf zwischen den Verwertungsgesellschaften bringt die bisherige Mischkalkulation der Autoren ins Rutschen: Relativ hohe Tantiemenanteile in Deutschland und relativ niedrige (beispielsweise aus den ehemaligen Ostblockländern), diese Rechnung gilt zukünftig nicht mehr. Das Geschäft macht in Zukunft derjenige, welcher der Industrie den günstigsten Kurs bietet.
Da hilft es auch nichts, wenn Musikschaffende nunmehr frei wählen können, welcher Verwertungsgesellschaft sie in Zukunft angehören wollen. Entscheidend ist, was unterm Strich für den einzelnen dabei herauskommt. Das aber ist eben abhängig von der Höhe der Gebühren, die eine Verwertungsgesellschaft im Namen aller Autoren von der Musikindustrie einfordert.
Und noch etwas kommt hinzu: Freie Wahl der Verwertungsgesellschaft von Seiten der Autoren bedeutet unter Umständen auch, keiner Verwertungsgesellschaft anzugehören: Ein interessanter Aspekt vor allen Dingen für die US-amerikanische Musikindustrie, denen die „Zwangsverwertung“ über europäische Gesellschaften ohnehin schon seit geraumer Zeit ein Dorn im Auge ist.
Ist es zuviel orakelt, wenn man befürchtet, dass die amerikanische Musikindustrie nun mehr in Erwägung ziehen könnte, ihre Copyrights (den Löwenanteil aller in Europa verwalteten Rechte, zumindest im Pop-Bereich) von den europäischen Verwertungsgesellschaften abzuziehen, um damit einen „eigenen Laden“ aufzumachen? Angesichts dieses Horrorszenarios mit unabsehbaren Folgen nicht nur für die GEMA, SABAM, SACEM und wie sie alle heißen sowie deren Mitarbeiter, sondern auch für alle aktiven Musikschaffenden, verwundert es nicht, dass schon im unmittelbaren Vorfeld der Entscheidung, am 3. Juli, ein Appell bei EU-Präsident Barroso einging, mit der dringenden Bitte, diesen „Kotau vor der Musikindustrie“ zu verhindern. Unterschrieben haben übrigens die selben Persönlichkeiten, die sich nur kurz zuvor für eine Verlängerung der Schutzfristen von Musikaufnahmen stark gemacht hatten, allen voran so bekannte Namen wie Paul McCartney, Charles Aznavour oder Julio Iglesias.
Angesichts der Scheinzugeständnisse, die den Unterzeichnenden jedoch durch die Annahme des Reformvorschlags durch die EU-Kommission gemacht worden ist, verpufft natürlich ein Großteil der sehr berechtigten Kritik an der CISAC-Entscheidung.
Das ganze riecht nach einem klassischen Kuhhandel zu Gunsten einer nur nach wirtschaftlichen Maßstäben operierenden Industrie und auf Kosten einer Vielzahl von Künstlern und Kulturschaffenden. Diejenigen, deren Position plakativ vordergründig durch beide Papiere gestärkt werden soll, gehören in jedem Fall zu den Verlierern, wobei es die Kleinen mal wieder am schlimmsten trifft. Der kleine Lobbymann im Ohr der Europaparlamentarier, denen man nicht unbedingt Detailkenntnisse der europäischen Musik- und Kulturszene unterstellen kann, hat mal wieder ganze Arbeit geleistet. Wer schützt die europäische Kultur vor Europa? – Oder – wenn man mal andere Brüsseler Stilblüten wie die „Eurokrümmungsnorm einer Banane“ hinzunimmt: Wer schützt Europa eigentlich vor sich selbst?