München - Kurz vor dem Schicksalstag in Großbritannien steht der englische Dirigent Simon Rattle im Münchner Herkulessaal auf der Bühne. Er hebt den Taktstock - und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunk donnert los: «Freude schöner Götterfunken». Ludwig van Beethovens «Ode an die Freude», die europäische Hymne. Zwar geht es Rattle bei dieser Aktion um einen Protest gegen das Aus für das Europäische Jugendorchester. Doch auch das Thema Brexit ist natürlich allgegenwärtig an diesem Tag - und bei dieser Melodie.
Eigentlich wolle er sich zu dem Thema gar nicht äußern, sagt Rattle. Das hätten schon zu viele getan. Aber es liege doch auf der Hand, dass Briten, die sich international bewegen, wahrscheinlich dafür seien, dass Großbritannien in der EU bleibt. Rattle ist seit 14 Jahren Chefdirigent der Berliner Philharmoniker und lebt in der deutschen Hauptstadt.
Nach Angaben des Bundesamtes für Statistik leben derzeit 105 965 Briten in Deutschland (Stand 31. Dezember 2015, 65 115 Briten und 40 850 Britinnen. Seit 2010 (96 143) stieg die Zahl kontinuierlich.
Einer von ihnen ist der britische Bildhauer Tony Cragg, der seit rund 40 Jahren in Wuppertal lebt, wo er den Skulpturenpark Waldfrieden als internationales Ausstellungszentrum betreibt. Von 2009 bis 2013 war er Rektor der Düsseldorfer Kunstakademie. Einen Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union fände er «wirklich sehr schade». «Das wäre ein Schritt rückwärts in der Entwicklung», sagt er.
Ähnlich sieht das auch Andrew Manze, Chefdirigent der NDR Radiophilharmonie. «Der Brexit würde wahrscheinlich die EU verletzen», sagt der 51 Jahre alte Geiger und Dirigent. Die Folgen für die Briten seien unvorhersehbar.
Angst vor einem Brexit hat auch die Schauspielerin Rebecca Siemoneit-Barum, bekannt aus der «Lindenstraße» und dem RTL-«Dschungelcamp» - und Halb-Engländerin. Ihre Mutter hat einen britischen Pass. «Die Beziehung zu Großbritannien prägt mein ganzes Leben», sagt sie. «Deswegen ist dieses Thema natürlich tagesaktuell für uns und wichtig und wir überlegen, was für Konsequenzen das haben könnte.»
Panisch sei man in ihrer Familie zwar nicht, aber: «Ich fände es angesichts der weltpolitischen Lage schön, England als europäischen Staat weiter mit im Boot zu haben und dass wir uns gegenseitig schützen. Gerade auch, weil es in meinem Blut ist, ist mir das vielleicht wichtiger als anderen Menschen.»
Sie glaubt allerdings, dass der Volksentscheid am 23. Juni in letzter Sekunde doch pro EU ausgehen wird. «Ich denke, am Wahltag werden einige, die jetzt noch groß prahlen, dass sie raus wollen, doch ein bisschen Schiss kriegen und sagen: Bleiben wir mal lieber drin.»
Benjamin Boyce wurde in London geboren, zog 1998 nach Deutschland, blieb bis 2009, war fünf Jahre weg und ist jetzt wieder da. Der Sänger (früher Caught in the Act, später RTL-«Dschungelcamp») wohnt in Köln, reist aber noch regelmäßig «auf die Affeninsel», wo er allerdings nicht mehr wählen dürfe, weil sein Wohnsitz in Deutschland sei.
«Die haben natürlich 1000 Jahre auf dieser Insel gelebt», sagt er über seine Landsleute. Großbritannien sei immer ein sehr selbstständiges Land gewesen. «Sie sind noch sehr gebunden an das Traditionelle und die selbstständige Vergangenheit», sagt er und hat durchaus Verständnis für diese Position. «Sie wollen ihre Originalität behalten und das hat natürlich auch immer was. Wenn ich rüber fahre, bin ich auch wirklich in England.» Ob der Brexit politisch gesehen eine gute Sache sei - das wisse er nicht. «Es könnte natürlich gefährlich sein, wenn sie sich zu sehr absondern von den Dingen, die man in Europa Hand in Hand macht.»
Brexit oder nicht - Boyce will in Deutschland bleiben, auch wenn er den Service in englischen Baumärkten besser findet als in deutschen. «Köln ist meine Heimat. Ich bin ein stolzer Brite in Deutschland.»
Ob er dafür im Brexit-Fall künftig eine Aufenthaltsgenehmigung braucht, hänge von den Vereinbarungen eines möglichen Austrittsabkommens zwischen Großbritannien und der Europäischen Union ab, erklärt der Europarechtler Walther Michl von der Ludwig-Maximilians-Universität in München. «Die Rechtsstellung würde sich nach Austrittsabkommen richten.»