New York/Dresden - Cellist Jan Vogler hat in seiner Wahlheimat New York schon einige Katastrophen erlebt. 2001 war es der Terror vom 11. September, 2012 wütete Hurrikan Sandy. In der Corona-Krise ist Big Apple erneut ein Hotspot. Vogler ist dennoch froh, dageblieben zu sein.
Krisen können den Blick auf die wesentlichen Dinge des Lebens schärfen. Das hat auch der renommierte Cellist Jan Vogler in den vergangenen Wochen erfahren. Der Berliner ist abwechselnd in New York und Dresden zu Hause. Als gefeierter Solist und Intendant zweier Festivals ist er zugleich ein Weltbürger, der schon immer über den eigenen Tellerrand blickte. Wenn er dieser Tage hin und wieder seine Wohnung in der Upper West Side von Manhattan verlässt, um ein bisschen frische Luft zu schnappen, sieht er viele Dinge anders als vorher.
«Ich schaue ganz genau hin, man sollte jetzt nicht blind durch die Gegend laufen. Denn ich habe das Gefühl, es bricht für die Menschen ein neues Zeitalter an. Es findet ein Umdenken statt, das weit über die Corona-Krise hinausgeht. Deshalb versuche ich, meine Sensoren darauf einzustellen», sagt Vogler. Er sehe die Krise auch als Chance - als Chance, ausgetretene Pfade zu verlassen und neue Lösungen für Probleme zu finden. Corona habe gezeigt, wie verletzlich die Welt ist: «Die Natur fordert Respekt von uns, wir haben das durch den technischen Fortschritt nur vergessen.»
Vogler kam Ende der 1990er Jahre mit seiner Frau - der Geigerin Mira Wang - nach New York. Zuvor hatte er als bis dato jüngster Konzertmeister in der Staatskapelle Dresden gespielt und danach eine erfolgreiche Karriere als Solist begonnen. «Wir haben sehr viel Glück gehabt in New York, viele positive Erfahrungen gemacht und gute Freunde gefunden», erzählt der 56-Jährige. Corona sei nicht die erste Krise, die er in New York erlebe. «Es war für uns klar, dass wir uns nicht aus dem Staub machen, sondern hier bleiben. Wir fühlen uns hier gut und sind in Kontakt mit vielen Freunden.»
Als erste Live-Auftritte von Vogler und seiner Frau krisenbedingt abgesagt werden mussten, schalteten beide in den Online-Modus um. Jan Vogler scharte Ende März namhafte Künstler um sich und organisierte ein 24 Stunden dauerndes Internet-Konzert unter dem Titel «Music Never Sleeps NYC». Die Stadt, die niemals schläft, hatte einst Frank Sinatra besungen, nun waren bekannte Musiker wie Vogler und die Geiger Gil Shaham und Joshua Bell am Zug. Die Resonanz war riesig, Fans auf mehreren Kontinenten hörten zu: «Das war ein kleines Erfolgserlebnis, so ein Gefühl «Aha, es geht doch!»».
Vogler sieht das Internet-Konzert, bei dem viele Künstler ihr privates Umfeld zur Bühne machten, als Beleg dafür, dass sich auch in Krisenzeiten Musik produzieren lässt. «Wir Künstler müssen mit Flexibilität und Fantasie auf diese Krise reagieren. Wir sollten jetzt nicht hoffen, dass alles so schnell wie möglich wieder wie früher wird, sondern als Künstler und Menschen aus dieser Situation etwas lernen. Das hat für mich Priorität.» Es sei ein schönes Gefühl gewesen, anderen mit dem Online-Auftritt Gefühle und die Atmosphäre eines Konzerts ins Wohnzimmer gebracht zu haben.
Das schwebt Vogler nun auch für seine Dresdner Musikfestspiele vor, deren Intendant er seit 2009 ist. Am Donnerstag musste er das bekannteste ostdeutsche Klassikfestival aufgrund der Pandemie schweren Herzens absagen. Beim Finale im vergangenen Jahr hatte er noch mit Rocklegende Eric Clapton gemeinsam musiziert. In diesem Jahr sollte Sting das Festival beschließen. Nun plant Vogler im Netz einen 24-Stunden-Musikmarathon mit Künstlern, die im Mai nach Dresden kommen wollten oder in den vergangenen Jahren hier zu Gast waren. Das Konzert soll in schwieriger Zeit Zuversicht spenden.
Die hat nicht nur das Publikum nötig. Vogler weiß, dass auch viele Künstlerkollegen von der Krise betroffen sind. Als er den Stars des diesjährigen Festspieljahrganges absagen musste, hat er viel Solidarität gespürt. Die Gefühlslage sei durchwachsen, sagt er. Viele Kollegen würden ihre eigene Situation relativieren und zuerst an jene denken, die am Coronavirus erkrankt sind und ums Überleben kämpfen. Andere müssten um ihr berufliches Überleben als Musiker kämpfen. Vogler selbst hofft nun darauf, dass wenigstens sein Moritzburg Festival für Kammermusik im August in irgendeiner Form stattfinden kann.
Auch jetzt, in der Zwangspause, wird im Hause Vogler in New York viel musiziert. Die beiden Töchter haben sich der Musik verschrieben. Die ältere studiert Computer Science und spielt Geige, die jüngere bekommt per Computer von der Schule Hausaufgaben und zudem Unterricht an der Juilliard School of Music. «Wir stehen zur ähnlichen Zeit auf wie immer, sind aktiv, sind zusammen», beschreibt Vogler den Alltag. Bislang spüre er noch nicht die große Ruhe, die jetzt so viele beschreiben: «Aber ich kann sie kommen sehen - eine Phase, in der ich noch mehr Zeit fürs Nachdenken habe.»