Mitte Juli wurde die Rahmenvereinbarung über die Zusammenarbeit an offenen Ganztagsgrundschulen des Landesmusikrates Nordrhein-Westfalen (NRW) und des Landesverbandes der Musikschulen NRW mit den nordrhein-westfälischen Ministerien für Schule, Jugend und Kinder und für Städtebau und Wohnen, Kultur und Sport geschlossen. Die beiden Verbände haben mit ihrer Unterschrift unter die Rahmenvereinbarung die Chance, die sich durch die flächendeckende Einführung der Ganztagsgrundschule in Deutschland als Reaktion auf das schlechte Abschneiden deutscher Schüler bei PISA bietet, am Schopf gepackt.
Jahrelang ging es immer nur um Abbau von Musikunterricht in und außerhalb der Schule, jetzt braucht die Politik bei der Umsetzung ihrer ehrgeizigen Ganztagsschulpläne gerade die Bereiche der Gesellschaft, die bislang eher als Kostenfaktor denn als gesellschaftliches Produktivkapital gesehen wurden. Neben den Laienmusikverbänden und den Musikschulen sind das besonders die Sportverbände, die Kirchen und die fast an jeder Schule arbeitenden Elterninitiativen. Sie sollen jetzt richten, was die Halbtagesgrundschule bislang nicht geschafft hat.
Einige Ergebnisse der PISA-Studie, gerade die Grundschule betreffen, wurden zwar durch die IGLU-Studie relativiert, trotzdem steht für mich außer Frage, dass die flächendeckende Einführung der Ganztagsschule, nicht nur für die Grundschule, erhebliche Vorteile für die Schülerinnen und Schüler und ihre Eltern bringen wird.
Zu den erschreckendsten Befunden der PISA-Studie zählt für mich die vollständig unzureichende Förderung besonders starker und besonders schwacher Schüler an deutschen Schulen. Und wer ein starker und wer ein schwacher Schüler wird, hängt auch noch unmittelbar mit der Einkommenssituation und der Bildung der Eltern zusammen. Dieses Ergebnis der PISA-Untersuchung nach dreißig Jahren westdeutscher Schulreform ist ein unglaubliches Armutszeugnis der Bildungspolitik. Alles, was diese Bildungskatastrophe einzudämmen vermag, ist sinnvoll. Die Ganztagsschule wird die Möglichkeit bieten, die starken und die schwachen Schüler deutlich besser als bislang zu fordern, da mehr Zeit zur individuellen Betreuung vorhanden sein wird. Auch die Eltern, in unserer gesellschaftlichen Realität überwiegend die Mütter, werden durch ein flächendeckendes Ganztagsschulangebot in der Zukunft ihre eigene berufliche Situation verbessern können, vorausgesetzt die längst versprochene Entspannung am Arbeitsmarkt kommt wirklich. Außerdem bietet die Ganztagsschule die Möglichkeit die musisch-kulturellen Fächer, die nicht nur in der PISA-Studie aus dem Blickfeld geraten sind, wieder deutlicher im Unterricht zu verankern. Dabei geht es nicht nur um den Musikunterricht, sondern auch um Bildende Kunst, Darstellende Kunst, Literatur und auch um Architektur. Jedes Kind muss in seiner Schulzeit mit allen Künsten in Berührung gekommen sein. Besonders begabte Schüler müssen die Chance erhalten, sich in den verschiedensten Künsten beweisen zu können. Nicht l’art pour l’art, sondern leistungsbezogener Unterricht, wie in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern üblich, muss auch in den musisch-kulturellen Fächern angeboten werden.
Doch will das nordrhein-westfälische Ministerium für Schule, Jugend und Kinder eine solche Ganztagsschule. Das Modell des Bildungsministeriums heißt „Offene Ganztagsschule“ und soll eine „andere“ Schule sein. Anders weil zumindest am Nachmittag nicht mehr hauptsächlich Lehrer die Schüler unterrichten, sondern die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen, aus dem Sozialbereich, dem Sport und der Kultur, Verantwortung übernehmen. In vier Jahren sollen schon 200.000 Kinder, das heißt ein Viertel aller Grundschüler in NRW, in die offene Ganztagesgrundschule gehen. Und obwohl die offene Ganztagesgrundschule also in wenigen Jahren zu einem wichtigen Zweig der Regelschule werden soll, soll sie nicht wie eine normale Schule behandelt werden. Das beginnt schon damit, das die Eltern für den Besuch ihrer Kinder in der offenen Ganztagesgrundschule Schulgeld bezahlen sollen. Bis zu 1.200 Euro plus Nebenkosten wie Verpflegung und Unterrichtsmaterial müssen die Eltern pro Jahr bezahlen. Der Nachmittagsunterricht wird als eine Art freiwillige Betreuungsleistung des Staates gesehen. Schule kann es ja nicht sein, die ist ja bekanntlich im Pflichtschulbereich an staatlichen Schule grundsätzlich kostenfrei.
Es geht bei der offenen Ganztagsschule in NRW um die Organisation einer höherwertigen Betreuungseinrichtung für möglichst viele Kinder. Und hier ist man auf die Unterstützung besonders der außerschulischen Bildungsträger angewiesen. Besonders die Musikschulen und die Musik- und Sportvereine vor Ort sollen am Nachmittag „ein außerunterrichtliches Musik- und Sportangebot für möglichst alle Kinder sicherstellen, die einen Platz in der offenen Ganztagsgrundschule haben“. Eine große, eine wichtige Aufgabe, aber wer übernimmt die Kosten für eine regelmäßige, professionelle Betreuung am Nachmittag? Und wer garantiert, dass der außerunterrichtliche Musikunterricht nicht der Vorwand ist, um zum Beispiel das Regelfach Musik einzustellen? Gerade die einseitige Ausrichtung der PISA-Studie auf die „harten“ Unterrichtfächer Mathematik, Deutsch und Naturwissenschaften, führen zu einer Verdrängung der vermeintlich „weichen“ Fächer wie Kunst und Sport aus dem Unterrichtskanon. Die Ankündigung der Landesregierung NRW die Hortplätze zugunsten der offenen Ganztagsgrundschule einzusparen, wird bei den Kommunen Mittel freigeben, doch stehen die Mittel, die durch die Auflösung der zirka 30.000 Hortplätze im Grundschulalter in NRW freiwerden, nach Aussage des Deutschen Städtetages in keinem sinnvollen Verhältnis zu den zu erwartenden Kosten, die durch die Ganztagsgrundschule mit 200.000 Kindern schon ab dem Jahr 2007 entstehen werden. Auch hat die Landesregierung bislang nicht zu erkennen gegeben, dass sie bereit ist auch das „nichtpädagogische“ Personal, also Unterrichtende die keine Lehrbefugnis durch das erste oder zweite Staatsexamen erlangt haben, zu finanzieren. Wer wird die Musiklehrer, Orchestermusiker, Dirigenten und Chorleiter bezahlen? Dass ein kontinuierliches Nachmittagsangebot hauptsächlich auf ehrenamtlichem Engagement fußt, ist nur schwer vorstellbar.
Bislang macht das Konzept der offenen Ganztagsgrundschule in NRW den Eindruck einer „Ganztagesgrundschule-Light“. Die Musikverbände, die mit dem nordrhein-westfälischen Bildungs- und Kulturministerium die Rahmenvereinbarung abgeschlossen haben, haben die Verantwortung darauf zu achten, dass die musisch-kulturelle Bildung gestärkt wird. Diese Verantwortung bezieht sich meiner Ansicht nach nicht nur auf den Musikunterricht, sondern umfasst die gesamten Künste.
Diese neue Verantwortung ist aber keine Last, sondern die Chance für die Verbände die Bildungslandschaft der Zukunft unmittelbar mitzugestalten. Ohne sie wird die Landesregierung NRW ihr Ganztagsgrundschulprojekt nicht realisieren können. Ob die Ganztagesgrundschule ein Gewinn für den Musik- und Kunstunterricht in NRW wird oder ob nur ein light-Programm zur Betreuung von Kindern am Nachmittag mit Musik übrigbleibt, liegt also auch an ihnen.