„Was produzieren Musikerinnen und Musiker überall auf der Welt an neuen, spannenden Ideen?“ – lautet eine Lebensfrage für Reiner Michalke, der von 2006 bis 2016 das Moers-Festival künstlerisch programmierte. Im August 2016 hat er vorzeitig die Leitung abgegeben. Der Grund: Zwar agierten er und sein fleißiges Team während der Festivals nach außen mit einer bewundernswerten Gelassenheit. Hinter den Kulissen sei es nach eigenem Bekunden aber oft weit „über die Schmerzgrenze“ hinaus gegangen. Gemeint sind vor allem die ständigen Querelen ums Finanzielle und ein ebensolcher Dauerkonflikt zwischen den Festivalmachern und der Lokalpolitik.
Schon ganz früh hegte Reiner Michalke viel Leidenschaft für die freie Musikkultur. Im Alter von 21 Jahren im Jahr 1978 debutierte er als Festivalmacher mit dem Kölner Jazzhaus-Festival. Dabei gab es ein ganz großes Vorbild: Das (damals noch so genannte) New Jazz Festival Moers. Dort, damals noch unter Burkhard Hennes Federführung, entstand und veränderte sich eine Musik, die „niemals stehen bleibt und sich hohen Risiken aussetzt“. Entsprechend hohen Respekt empfand Reiner Michalke, als er hier im Jahr 2006 selbst mit der Leitung beauftragt wurde.
Wer hier Berge versetzen will, muss aufs große Ganze blicken und sich dafür selbst als Person zurücknehmen, war sein Credo: „Das Ereignis ist immer größer als man selbst.“ Der ständige Vertrauensbeweis durch das Publikum konnte dafür kein besseres Treibmittel sein. Jeder weiß: In Moers ist Verlass auf neue Ideen und eine Musik, die man nirgendwo sonst hören kann. Leider sind die lokalpolitischen Befindlichkeiten um das Festival herum nicht kleiner geblieben als das Ereignis selbst.
Dass der Name dieser Stadt am äußersten Westrand des Ruhrgebiets in einem Atemzug mit New York und anderen künstlerischen Brennpunkten dieses Planeten fällt, zählt anscheinend kaum innerhalb einer immer aggressiver werdenden lokalen Gegnerschaft, in der mittlerweile auch Angehörige jüngerer Generationen mitmischen.
Richtig Blut geleckt wurde, als im Frühjahr durch eine neue Geschäftsführung die finanziellen Risiken des Festivals ungünstiger als in der Vergangenheit bewertet wurden. Michalke sieht seitdem die eigene Vision einer Harmonisierung des Konflikts endgültig als gescheitert an: „Die lokalen Gegner sind immer stärker und seine unermüdlichen Beschützer schwächer geworden“.
Aus persönlicher Sicht klug hat der Programmchef aus Köln zum Aufhören einen Zeitpunkt gewählt, an dem sich das Festival noch stark präsentieren konnte: Pfingsten 2016 gab es einen Publikumsrekord. Die Aufführungsbedingungen in der neuen Festivalhalle sind besser als je zuvor. Noch im letzten Jahr hatte die Bundeskulturministerin Monika Grütters beim Sonntagsempfang das Geleistete hoch gelobt. Der Satz, dass man aufhören soll, wenn es am schönsten ist, bekommt hier einen faden Beigeschmack. Der auf lokaler Ebene offenkundig fahrlässige Umgang mit kulturellen Werten bekräftigt Reiner Michalkes Einschätzung, dass „aktuelle, improvisierte, experimentelle und abenteuerliche“ Musik wohl doch nur in den Metropolen stattfinden kann – und in einer kleinen Stadt am Niederrhein künftig vielleicht nicht mehr so viele Überlebenschancen hat.
Reiner Michalke konzentriert sich jetzt mit ganzer Kraft und neuen Plänen auf NRWs Musikmetropole Köln. Der Stadtgarten, jene seit 1986 von ihm als geschäftsführender Gesellschaft künstlerisch betreute Spielstätte für aktuelle Musik, soll durch verbesserte Fördermaßnahmen zu einem „Europäischen Zentrum für improvisierte Musik“ ausgebaut werden. Mehr Details werden Ende des Jahres verraten. Zumindest herrsche im Moment schon eine „ganz neue Aufbruchstimmung!“