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Eres Holz. Foto: Maria Frodl

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„Das hat mein Heimatgefühl hierzulande tief verletzt“

Untertitel
Der israelisch-deutsche Komponist Eres Holz über Terror, Trauma, Teilnahmslosigkeit
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Auf den Straßen in Berlin bejubeln im Jahr 2023 Menschen die sadistische Ermordung von Menschen beim Massaker der Terror-Organisation Hamas auf israelischem Boden am 7. Oktober. Hier die Bilder der Freude in den Augen der Hamas-Sympathisanten, dort in Israel die Familien und Freunde in tiefer Bestürzung und Trauer. Das lässt mir keine Ruhe und verfolgt mich auf meiner Reise nach Wien zur Uraufführung meines neuen Werks „DEATH“ für zwei Bassklarinetten, Licht und Live-Elektronik. Eine düstere Arbeit in düsteren Zeiten mit gewaltigen Klängen, mit Licht und Nebel inszeniert, als würde der Tod selbst sprechen, jedoch nicht gewinnen, denn das Stück entscheidet sich letztendlich für das Leben. Es endet mit abruptem lauten Atem, erschrocken aus einem Alptraum erwacht.

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Ich selbst bin aber nicht erwacht. Seit dem 7. Oktober bin ich nur Halbmensch, zwischen Kontinenten, Sprachen und Identitäten zerrissen. Ich verfolge auf Hebräisch den ganzen Tag lang Radiosendungen in Israel und höre Familienangehörigen von Entführten zu, die von ihrer unerträglichen Situation berichten, den Alltag zu bewältigen, ohne zu wissen, wie es dem Säugling oder Kind, der Frau, dem Mann oder den Großeltern in den Händen der Terroristen geht, ob sie anständig behandelt werden – alles ohne Lebenszeichen zu erhalten.

Die verheerenden Folgen des Holocausts und der Kriege in Israel haben mich und viele andere Menschen in Israel und weltweit über Generationen hinweg stark geprägt. Meine Großeltern mussten 1939 aus JarosÅ‚aw in Polen vor den Nazis fliehen. Meine Mutter wurde 1940 in einem Flüchtlingslager in Sibirien geboren. Angesichts der Gräueltaten der Hamas kommen in mir wieder Bilder der dunkelsten Entmenschlichung im Holocaust hoch. Nach zwanzig Jahren in Deutschland bin ich seit 2019 auch deutscher Staatsbürger. Deutschland wurde mit all der Komplexität der Vergangenheit, vielleicht gerade deswegen, zur Heimat. Nach den Ereignissen des 7. Oktober wurde mir zum ersten Mal auch bewusst, wie unermesslich stark meine Bindung und das Zugehörigkeitsgefühl zu Israel ist und in Zeiten der Not und Angst getriggert wird.

Die öffentliche Stille unter den meis­ten Kollegen und führenden Auftraggebern der zeitgenössischen Musik angesichts der israel- und judenfeindlichen Demonstrationen in Deutschland, direkt nach dem Massaker, hat mein Heimatgefühl hierzulande tief verletzt. Wie viele Israelis und Juden in Deutschland berichten, verspüre auch ich die Kälte und Distanz von Bekannten und Kollegen – eine Art Verweigerung der Teilnahme an meiner Trauer. Vielleicht liegt es daran, dass ich an etwas anderes gewöhnt bin?

In Israel zeichnet sich die Gesellschaft durch eine besonders enge familiäre Verbundenheit aus, und viele Menschen, auch ich, haben enge Beziehungen zueinander. Fast jeder Israeli kennt jemanden, der einen beim Terroranschlag Ermordeten oder Verschleppten kennt. Die Dimension der Bestürzung ist erheblich. Doch im Social-Media-Gewirr verbreiten sich antisemitische Posts in großer Menge. Solidarische Posts an Familienangehörige der Verschleppten und Ermordeten erhalten kaum Zuspruch von Kollegen, zumindest öffentlich nicht genug. Wenige bekundeten ihre Solidarität in privaten Nachrichten. Und mit ernüchterndem Blick stelle ich fest, dass es tatsächlich Menschen gibt, die glauben, Israelis hätten solche Gräueltaten aufgrund des israelisch-palästinensischen Konflikts verdient. Welche Menschen – zumal völlig unschuldige – verdienen eine derartige Brutalität? Niemand!

Im ersten Monat nach dem Terror-Anschlag war es mir kaum möglich, mich auch mit dem Leid der anderen Seite zu identifizieren, da die Trauer, Angst und Wut so immens war. Das Ethos des Zusammenhaltens gewann die Oberhand. Ich fühlte mich ausschließlich meiner Familie und meinen Freunden verpflichtet. Heute bin ich nur noch verzweifelt und sprachlos gegenüber dem unendlichen Leid, das Menschen angetan wird, auch bei der israelischen Bodenoffensive zur Zerstörung der Hamas, der viele palästinensische Zivilisten zum Opfer fallen. Die Folgen sind nur noch mehr Elend und Hass. Wird die Entmachtung der Terror-Organisation gelingen? Wird es dann eine friedliche Resolution geben? Nachdem so viele Menschen auf beiden Seiten hoch traumatisiert sind? Es fällt mir schwer, das zu glauben. Ich fürchte sehr, dass das liberale Lager in Israel delegitimiert wird und die Bevölkerung noch weiter nach rechts rückt. Obwohl einige Stimmen klar fordern, dass die israelische Regierung ihr Amt niederlegen muss, schafft die fragile Situation einen Nährboden für Fanatiker. Es steht außer Frage: Benjamin Netanjahu führt das Land seit Jahren auf einen Kollaps zu.

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Beim Forum neuer Musik 2023 „In der deutschen Nachkriegszeit“ von Frank Kämpfer wurde im Kammermusiksaal des Deutschlandfunks Köln mein neues Auftragswerk „Ein Mensch erkennt, dass er nie Mensch war“ für großes Ensemble, Textprojektion und Live-Elektronik vom E-MEX Ensemble unter Leitung von Christoph Maria Wagner uraufgeführt (Bericht Seite 10). Grundlage für das Werk waren psychiatrische Dokumente ehemaliger Wehrmachtssoldaten. Es war für mich eine äußerst emotionale und anspruchsvolle Aufgabe, an diesem Stück zu arbeiten. Mein Ziel war es, einen differenzierteren Blick auf die Rollen von Täter und Opfer zu werfen, insbesondere zu betonen, dass ein Täter zugleich auch ein Opfer sein kann. Die Dokumente, als Zeugnisse sehr persönlicher und menschlicher Momente, veranschaulichen die traumatischen Erlebnisse des Krieges, sowohl Schuldgefühle als auch die damit einhergehende Zerstörung des Weltbildes und die Infragestellung der eigenen Menschlichkeit.

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Die Konsequenzen solcher Kriegstraumata sind verheerend. Sie halten ein Leben lang und können sogar mehrere Generationen prägen. Das fordert uns dazu auf, die Vergangenheit zu reflektieren, um daraus zu lernen und eine bessere Zukunft zu gestalten, in der solche Zerstörungen vermieden werden können. Der Mensch ist zu Bestialität fähig; zugleich ist er ein zärtliches und hoch sensibles Wesen. Er ist fragil und sollte darum entsprechend behutsam behandelt werden. „Ein Mensch erkennt, dass er nie Mensch war“ regt auch dazu an, das Bewusstsein für die Bedeutung von Empathie in der Gesellschaft zu stärken.

Ich wünschte, die Menschen, besonders diejenigen, die nicht direkt in den israelisch-palästinensischen Konflikt involviert sind, würden sich wirklich um den Frieden zwischen Israelis und Palästinensern bemühen und in dieser furchtbaren Zeit gemeinsam mit ihnen hoffen, Zuneigung zeigen, anstatt nur eine Seite zu bevorzugen, während die andere noch ihre Toten beerdigt.

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