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Das sichere Pferd

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Wenn man bei Wettrennen aufs sichere Pferd setzt, dann pachtet man mit gewisser Wahrscheinlichkeit einen Gewinn, der sich freilich wegen der niedrigen Quoten kaum auszahlt. Keiner aber wird die vorwürfige Frage stellen, warum gerade auf dieses Pferd, es mag James heißen, gesetzt wurde. Im Gegenteil: Das Attribut eines besonnenen Spielers wird dem Wetter zuteil. Läßt sich das auf den Handel mit Kunst und Künstlern übertragen? Manches deutet darauf hin, wenn man die Auseinandersetzungen der Stadt München und ihrer Philharmoniker um James Levine verfolgt. Der bringt Sicherheiten mit: einen international als groß festgeschriebenen Namen, eine Plattenfirma mit medialen Verwertungsabsichten, da muß man sich nicht verstecken vor den beiden orchestralen Stadtkonkurrenten, vor Maazel- und Mehta-Ebenen. Wenn dann auch noch der Vertragsentwurf einigermaßen stimmt – Levine soll 500.000 Mark Brutto-Grundgehalt und für jeden der bis zu 24 Auftritte 60.000 Mark erhalten, bleibt also wohl unter den Kosten für Vorgänger Celibidache –, dann erscheint es als verständlich, wenn das Orchester für den smart-kollegialen und amerikanisch humorvollen Levine Partei ergreift. „Levine war und ist der erste und einzige Kandidat, den sich das Orchester als Celibidache-Nachfolger wünscht“, heißt es in einem Schreiben an den Münchner Stadtrat. Warum also meint man doch einige Haken wahrzunehmen, warum sträuben sich SPD und vor allem Grüne gegen die Absegnung. Auf einer Stadtratssitzung, auf der der Vertrag zur Debatte gestellt werden sollte, wurde der Tagesordnungspunkt flugs wieder gestrichen und vertagt – ein Verfahrensfehler, lautete es nach draußen. Nun gibt es freilich Gründe hierfür. Zum einen macht sich im Kulturleben eine gewisse Müdigkeit gegenüber „sicheren Pferden“ bemerkbar. Das Sichere wird als das Unsicherere eingeschätzt, einfach deshalb, weil es so etwas wie eine kulturelle Versicherung nicht gibt. Celibidache hatte solches vor jeder Aufführung gepredigt und gerade das Wagnis in bezug auf jeden Ton machte seine Konzerte, wie immer man die einzelnen Ergebnisse auch einschätzen mochte, zu einem aufregenden Erlebnis. Hieran hatten die Philharmoniker an Kontur gewonnen und auch Ansätze eines neuen orchestralen Selbstbewußtseins in der Einzelverantwortung gegenüber dem Werk entwickelt. Daran anzuknüpfen, auch wenn es wohl heute keine Celibidache vergleichbare Dirigentenpersönlichkeit gibt, wäre eine Aufgabe, die freilich auch Mut und viel Einsatz erfordert. Es könnte hier an Modellen einer längst überfällig gewordenen neuen Orchesterkultur gearbeitet werden. Dies bliebe zunächst vermutlich ohne direkt spürbaren Lohn, da sich Trägheitsmomente seitens des Publikums wie auch der medialen Verwerter bemerkbar machen würden. Man hatte aber, und diese Hypothek an Chancen betrifft eben die Philharmoniker, in der Zeit mit Celibidache ein Bäumchen gepflanzt, deren reiche Früchte vollends erst einer kommenden Generation zuteil würden. Dieses Bäumchen soll nun im Sinne einer Flurbereinigung wieder untergepflügt werden. Eine bequeme Trasse tritt an seine Stelle, eine Trasse, auf der die sicheren Pferde weiterhin ihre vergänglichen Siege einfahren. So verständlich das sein mag, so traurig werden manche darüber sein. Sicherheit ist eben nicht alles.

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