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DCV-Präsident seit 2005: Henning Scherf. Foto: Alexander Zuckrow
DCV-Präsident seit 2005: Henning Scherf. Foto: Alexander Zuckrow
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Das Tempo des Strukturwandels hat einige überfordert

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Henning Scherf, der scheidende Präsident des Deutschen Chorverbands, im Gespräch
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Nach zwölf Jahren als Präsident des Deutschen Chorverbands (DCV) wird Henning Scherf im Februar 2018 nicht mehr für dieses Amt kandidieren. Mit Theo Geißler und Juan Martin Koch sprach er über die Entwicklung der Chorszene in dieser Zeit und die Austritte von acht Landesverbänden aus dem DCV zum Ende dieses Jahres.

Theo Geißler: Als Sie 2005 zum Präsidenten des DCV gewählt wurden, waren Sie ein „Newcomer“, jetzt haben Sie zwölf Jahre Chorverbandswesen hinter sich. Würden Sie es nochmal machen?

Henning Scherf: Ich habe damals keine konkreten Vorstellungen davon gehabt, was an Arbeit auf mich zukommt. Es war dann viel mehr, als ich erwartet hatte … Ich halte mich inzwischen an den schönen Erfolgen fest. Ich habe in diesen Jahren viel Freude am Chorsingen bekommen und ich habe ganz viele kluge, junge, engagierte Menschen kennengelernt, auch bei uns in der Geschäftsstelle. So hatte ich das Gefühl, dass mir ein großes, weites Tor aufgestoßen wurde: zu einer Musikszene, die weit über Deutschland hinausreicht und die eine große Zukunft hat.

Geißler: In Ihre Amtszeit fiel ein spürbarer Aufschwung innerhalb der Chorszene, den der DCV mit Projekten wie der chor.com maßgeblich mit angeschoben hat. Ist das nur die Außenwahrnehmung oder sehen Sie eine nachhaltige Entwicklung?

Aufblühen der Chorbewegung

Scherf: Ich glaube, wir haben diesen großen, geschichtsträchtigen Verband aus einem sehr traditionellen Vereinsverständnis heraus in eine neue Zukunft gebracht. Wir sind jetzt nicht nur Chorverband, sondern Fachverband, erreichen auch Viele außerhalb des organisierten Betriebes: Kirchenmusiker, Schulmusiker, die professionellen Chöre… Und wir haben eine starke internationale Resonanz. Das wirkt auf mich so, dass es nachhaltig sein wird und dass sich darin ein neues Aufblühen der Chorbewegung zeigt. Die vielen jungen Menschen, die sich engagieren, werden das in den nächsten Jahrzehnten weiterbetreiben, auch im Austausch mit den Partnern aus anderen Ländern, von denen wir viel lernen können. Ich glaube, wir sind ein wichtiger Teil einer starken Aufwärtsbewegung der internationalen Chorbewegung.

Juan Martin Koch: Gerade den jungen Leuten sagt man aber nach, dass sie sich eher projektbezogen engagieren …

Scherf: Das ist richtig beobachtet. Junge Leute sind eher projektaffin, als dass sie sich um Verbandsaufgaben drängeln. Trotzdem beobachte ich bei unserer Chorjugend – besonders bei den couragierten Vertretern, die gerade angetreten sind –, wie sie schrittweise über ihre Projekte Verbündete suchen. Und der Deutsche Jugendkammerchor hat unter Florian Benfer über die letzten Jahre hinweg eine hohe internationale Attraktivität entwickelt.

Geißler: Ein weiteres Arbeitsfeld, dem sich der DCV in Ihrer Amtszeit ver­stärkt­ gewidmet hat, ist das Singen in Kindergärten – Stichwort „Die Carusos“. Wird mittlerweile mehr und besser in Kindergärten gesungen?

Scherf: Das ist ein Bohren von dicken Brettern. Wir hatten einen wunderbaren Auftakt mit dem „Felix“ und haben damit tausende Kindergärten erreicht. Dann haben wir gemerkt, dass wir die Erzieherinnen qualifizieren müssen und haben zusammen mit Barbara Busch von der HfM Würzburg und der Bundesakademie Trossingen ein Curriculum entwickelt. Dieses ist nicht leicht zu vermitteln, da muss man sich auf den Hosenboden setzen. Aber ich denke, das ist der richtige Weg, um zu lernen, qualifiziert mit Kinderstimmen zu arbeiten – im Kindergarten, aber bitteschön auch in den Grundschulen. Das ist ein wichtiges Feld, auf dem die Zukunft der deutschen Chorbewegung entschieden wird. Da darf man nicht aufgeben, da muss man weiter machen, auch wenn der eine oder die andere sich überfordert fühlt.

Koch: Am Beginn Ihrer Amtszeit war die Situation angespannt, der Umzug von Köln nach Berlin umstritten. Nun, am Ende Ihrer Tätigkeit gibt es die Austritte von acht Landesverbänden. Was bedeutet das für den DCV?

Scherf: Es ist schmerzlich, dass wir jetzt ungefähr ein Viertel unserer Mitglieder verlieren. Ich versuche das dadurch zu erklären, dass wir einen Strukturwandel vollzogen haben, den nicht alle mitgegangen sind. Ich be­obachte das auch in anderen Verbänden, wo es ähnliche Brüche gibt zwischen denen, die einfach nur weitermachen wollen, und denen, die neue Wege gehen möchten. Da ist uns nun eine erstaunlich große Zahl abhan­dengekommen. Wir geben aber nicht auf: Wir wollen den Chören, die in den ausgetretenen Verbänden aktiv sind, auch in Zukunft eine enge Zusammenarbeit anbieten. Sie haben Zugang zu unseren Chorfesten, wir wollen sie bei den Angeboten der chor.com einbeziehen, wollen ihnen Weiterbildungszugänge offenhalten. Wir hoffen, dass es auf lange Sicht ein freundschaftliches, gut eingestimmtes Zusammenarbeiten gibt. Wir wollen die Gräben nicht vertiefen, die da entstanden sind.

Geißler: Gab es da möglicherweise Kommunikationsprobleme mit den noch stark in der Tradition verhafteten Verbänden, die den innovativen Weg in Sachen Lobbyarbeit, Kulturpolitik und Professionalisierung nicht verstanden haben oder nicht mitgehen konnten?

Gründe für die Austritte

Scherf: Man muss da sehr behutsam nach den Gründen suchen. Ich habe auch den Eindruck, dass wir zu couragiert vorgegangen sind, dass wir das Tempo mit unserer tollen Geschäftsstelle so forciert haben, dass wir einige überfordert haben. Das konnte man zum Beispiel bei unserer Zeitschrift „Chorzeit“ sehen. Sie ist meiner Meinung nach ein ganz wunderbares Medium geworden, aber ich weiß auch, dass sich viele darin nicht wiederfinden. Das gilt auch für unser Chorzentrum, das wir nun mit Hilfe der Bundesregierung in Neukölln aufbauen. Ich finde, dass es dort in einem spannenden Umfeld richtig platziert ist. Da fragen einige: Wieso betreibt ihr in Berlin so einen Aufwand? Wir haben hier vor Ort ganz andere Probleme. Auch haben wir in mehreren Kampfabstimmungen rigoros die Mehrheiten durchgesetzt. Da sahen manche, die sich überstimmt gefühlt haben, wohl keine Machtperspektive mehr. Es kann aber auch sein, dass der Austritt bei einigen aus einer Schwäche heraus erfolgte, um ihren erkennbaren Abschwung ein wenig hinauszuzögern. Ich halte das für eine Fehleinschätzung und für dringend korrekturbedürftig, möchte aber nicht hinterhertreten, möchte nicht das Klima verderben, sondern möchte auch nach einer solchen dramatischen Entscheidung sagen: Überlegt euch das nochmal – wir leben vom Chorgesang, wir leben davon, dass wir immer wieder neue musikalische Erfahrungen machen. Das braucht Öffentlichkeit, braucht Anerkennung, und die bekommt ihr mit uns und die sollt ihr auch in Zukunft wieder erreichen können.

Koch: Stichwort Chorzentrum: Haben die ausgetretenen Landesverbände sich nicht für das Konzept erwärmen können oder geht es nur ums Geld?

Scherf: Da wurde ganz Unterschiedliches vorgetragen. Wir sind sehr ehrgeizig mit diesem Projekt, sind glücklich, dass die Bundesregierung und die Berliner Senatsverwaltung uns unterstützen. Es kann natürlich sein, dass dieses große Format vielen, die mit ihren kleinen Chören Mühe haben, Nachwuchs zu finden, einfach zu weit weg ist. Wir haben von Anfang an gesagt, und das halten wir durch: Wir geben keine Mitgliedsbeiträge in dieses Projekt. Es wird mit der Rücklage finanziert, die wir durch den Verkauf unseres Hauses in Köln gebildet haben und die auf einstimmigen Beschluss des Chorverbands für ein neues Zentrum in Berlin zurückgestellt worden ist. Alles andere bringen wir durch Drittfinanzierungen auf. Wir schaffen damit nach meiner Einschätzung eine langfristige Absicherung des Chorwesens. Ich bin überzeugt davon, dass wir über die vielen Menschen, die sich dort in den nächsten Jahren begegnen werden – in Akademien, in vielen öffentlichen Veranstaltungen, in Fortbildungen –, eine ganze Generation junger Sängerinnen und Sänger gewinnen. Unsere Nachfolger werden daraus ganz große Vorteile ziehen. Politisch knüpfen wir übrigens an die Zeit vor 1933 an. Da hatten wir in Berlin ein Chorzentrum, das die Nazis abgeräumt haben.

Geißler: Sie haben als Politiker viel dazu beigetragen, dass der DCV auch kulturpolitisch eine gewichtige Stimme im Konzert der Kulturschaffenden geworden ist. Nun folgt, so zwitschern es die Vögelein, ein weiterer Politiker. Finden Sie das gut?

Blick nach vorne

Scherf: Wir wollen ja noch nicht über meinen Nachfolger reden … Aber das ist natürlich eine sehr prominente Personalie. Er ist hochmotiviert und ich glaube, es wird eine große Öffentlichkeit geben, die sagt: Donnerwetter, wie schaffen die es, einen so prominenten Verbandspräsidenten zu finden! Ich bin zuversichtlich, dass wir kulturpolitisch auf dem richtigen Dampfer und auch für die Länderregierungen eine wichtige Adresse sind. Die chor.com ist auf dem Weg, nach Hannover umzuziehen. Die Stadt hat bereits die Förderung beschlossen, das Land Niedersachsen seine Bereitschaft signalisiert, die chor.com von 2019 bis 2023 nach Hannover zu holen. Die endgültige Entscheidung erwarten wir im ersten Quartal 2018. Da spüren wir ganz viel Kraft und landespolitischen Ehrgeiz dahinter. Das lässt sich auch auf andere Länder übertragen: Ich hoffe, dass wir ein Vermittler werden können zwischen den Chören und den Kulturbürokratien.

Geißler: Was macht Henning Scherf, wenn er die Belastung dieser Riesenaufgabe nun abgibt?

Scherf: Ich werde jetzt achtzig und bin zusammen mit meiner Frau seit 30 Jahren in einem Gemeinschaftsprojekt involviert. Wir haben eine große Familie, kümmern uns um eine Flüchtlingsfamilie aus Nigeria. Wir musizieren weiter, ich schreibe weiter Bücher und halte ja seit vielen Jahren bundesweit Vorträge über das Altwerden, über das anders Altwerden. Das wird mich weiter begleiten, vielleicht nicht in der gleichen Intensität wie in den vergangenen Jahren, aber aufhören werde ich nicht. Solange mich der liebe Gott laufen lässt und ich laufen kann und singen kann und reden kann, werde ich reden und singen und laufen.

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