Über den Schulmusiker an sich kursieren ja die wildesten Gerüchte und Vorurteile: Von der Musikhochschule sinnloserweise zum Hochleistungssolisten ausgebildet, wird er ohne jede Praxisanleitung auf unschuldige Kinder losgelassen, wo er dann entweder stur leistungsbezogen seinen Lehrplan durchzieht oder die Zeit mit dem Abspielen der Klassik-Hits totschlägt. Mit 45 ist er dann ausgebrannt, weil die Schüler im Unterricht nicht mal die Stöpsel ihres i-Pods aus den Ohren nehmen und niemand in Schulleitung oder Kollegium seinem Fach Wertschätzung entgegenbringt.
Soweit die Mär, die im Hintergrund immer mitschwingt, wenn vom Niedergang des Musikunterrichts oder dessen Nichtvorhandensein an deutschen Schulen die Rede ist. Einen ganz anderen Eindruck von der Spezies Schulmusiker bekommt man auf energiegeladenen Fachtagungen wie derjenigen Ende September in Kassel, wohin der „Arbeitskreis für Schulmusik und allgemeine Musikpädagogik“ (AfS) eingeladen hatte. Während man sich früher – durchaus in Konkurrenz zum „Verband Deutscher Schulmusiker“ (VDS) – dafür stark machte, den Staub von klassik- und theoriefixierten Lehrplänen zu blasen, Pop, Rock und außereuropäische Musik gerade auch in praktischer Form in die Klassenzimmer zu bringen, ist die Lagerbildung inzwischen überwunden. Der AfS kooperiert mit dem VDS, bindet diesen sogar in die inhaltliche Planung seiner Kongresse ein. Und mit dem diesjährigen Thema schien man auch den Versuch zu machen, bewusst gegen das eigene Image zu bürsten: „Bach-Bebop-Bredemeyer – Sperriges lebendig unterrichten“ hieß es da, eher AfS-untypisch.
In diesem Sinne argumentierte auch der AfS-Vorsitzende Jürgen Terhag als Moderator der Eröffnungsdiskussion: Sei der AfS ansonsten eher dafür bekannt, „schülernahe Themen“ einzufordern, so komme man diesmal gleichsam von der anderen Seite. Mit einem Schuss Provokation hatte er kurzerhand die Klassik als solche ins Reich der „Sperrigkeit“ verwiesen und wurde darin auch gleich von Michael Fromm bestätigt, der die klassische Musik im Unterricht kurzerhand zur „hochexplosiven Mischung“ erklärte, die „in falschen Händen den Zugang zur Musik versperren kann.“ Frauke Heß mochte in ihr wenigstens eine „Zumutung im positiven Sinne“ erkennen, Barbara Stiller wehrte sich gegen die Vorstellung von der Klassik als „unbewegter Musik“ und Barbara Jeschonneck konnte aus ihrer Erfahrung an einer „Brennpunkt-Grundschule“ gar von einem „Dürsten nach Qualität“ und einem überaus erfolgreichen „Mozart-Tag“ berichten. Wo Fromm für einen strikt praxisorientierten Zugang plädierte, gab Frauke Heß zu Bedenken, eine Bruckner-Symphonie könne nicht durch das eigene Spiel im Unterricht erschlossen werden. Ähnlich disparat blieben die Vorstellungen auch im weiteren Gesprächsverlauf, der in altbekannter Zuspitzung zu der Frage führte, in welchem Maße ein Lehrer selbst spezialisierter Künstler oder vielleicht doch eher „Universaldilettant“ (Terhag) sein müsse.
Ein Aspekt der Diskussion aber sollte im weiteren Verlauf der Tagung eine Rolle spielen, die Frage Jürgen Terhags nämlich, ob man die Klassik nicht bewusst als etwas Fremdes präsentieren solle. In eine ähnliche Richtung zielten Christoph Wallbaums Überlegungen zu einem „außeraustralischen Beethoven“, also zum Versuch, die klassische Musikkultur von einem außereuropäischen Standpunkt aus einzukreisen, oder die von Dorothee Barth und Martin Greve beschriebenen Projekte zur Feldforschung gleichsam vor dem eigenen Schultor.
Zahllose weitere Workshops, Vorträge, Diskussionen und Konzerte an diesem langen Wochenende versuchten, in die im Kongressmotto apostrophierten „Sperrgebiete“ vorzudringen, wobei Bach – nicht überraschend – bei entsprechender kreativer Umsetzung schnell von jenem vermeintlichen Sockel herabgenommen war, auf dem er sonst angeblich sein Dasein fristet. Freilich trieb diese Kreativität in einem Fall auch kuriose Blüten. So verstieg sich Peter Tomanke im Rahmen seiner durchaus anregenden praktischen Erarbeitung eines Bach’schen Konzert-rondos zu der These, die Rondoform spiegle das Ur-Bedürfnis des Menschen nach der Rückkehr in den Mutterschoß wieder. Der notwendigen, auch als Befreiung empfundenen Abnabelung vom Rondothema in den individuellen Couplets, in denen der Mensch sich als Einzelwesen empfinde, stehe die Rückkehr in die Geborgenheit des Kollektivs, also des Rondothemas gegenüber. Jede Musik, so Tomanke weiter, die auf die Wiederkehr erkennbarer Motive, also im weiteren Sinne das Rondoprinzip verzichte, sei im Grunde an den Bedürfnissen des Menschen vorbeikomponiert. Deswegen seien auch Schönberg und andere mit ihrer Musik gescheitert.
Dass Dutzende Schulmusiker diesen Unsinn kopfnickend hinnahmen, um dann weiter ihre Tanzrunden zu drehen, war hoffentlich nur der momentanen Versenkung in das praktische Tun geschuldet. Alarmierender waren da schon die Gründe dafür, dass die Teilnehmerzahl in diesem Jahr nur bei gut 500 lag (im Vergleich zu etwa 800 in früheren Jahren). Vielfach hatten Lehrkräfte für die Donnerstag abends beginnenden Veranstaltungen offenbar nicht die Freigabe von ihrer Schulleitung bekommen oder brauchten angesichts eines sich verschlechternden Berufsalltags die Herbstferien zur Regeneration. Auch fachpolitisch bleibt für den AfS also noch einiges zu tun.