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Der aufrechte Gang wird nicht mehr gewünscht

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Weshalb die kulturelle Jugendbildung kurzatmig geworden ist
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„Non scholae sed vitae discimus“, nicht nur Lateinschüler mussten lauthals versichern, dass nicht für die Schule sondern für das Leben gelernt würde; auch die Lehrer benötigten offenbar diese Selbstvergewisserung, dass die Schule, die Höhere zumal, von einem Bildungsanspruch geprägt war. Das Imperfekt ist hier nicht zufällig gewählt, scheint sich die die allgemeinbildende Schule doch heute auf eine Wissensvermittlung zu beschränken, die für die Berufsausbildung und den Eintritt in das Berufsleben unabdingbar ist. Wenn auf Bahnhöfen die Ankunft des IC-Zuges „Theodor Fonteein“ angekündigt wird oder jemand in einer Stadtbücherei „Nathans Weise“ verlangt, fällt es nicht mehr weiter auf. Da es in der deutschen Bevölkerung offenbar keine Grundausstattung an Bildung mehr gibt – sonst müsste sie ja nicht zum Beispiel vom Bundestagspräsidenten Thierse eingefordert werden –, werden Bildungslücken keineswegs mehr als peinlich empfunden. Ob sie ausschließlich der Schule anzulasten sind, kann hier dahingestellt bleiben; Tatsache ist, dass das deutsche Schulwesen im internationalen Vergleich derzeit ziemlich schlecht abschneidet. Sollten wir die Bildung nicht dem Leben selbst überlassen? Damit wäre doch die praktische Nutzanwendung gewährleistet, so dass nicht sinnlos gelernt würde. Aber: „Nicht das Leben, nur die Bildung bildet“, sagt Hermann Giesecke in der Zeitschrift „Psychologie heute“, 9/1999, wobei er keineswegs leugnet, dass ohne Bezug zur bisherigen Erfahrung auch das bildende Lernen nicht möglich ist. Und er unterstreicht den Lebensweltbezug noch deutlicher: „Wissen ist kein Selbstzweck sondern ein Mittel zur Auseinandersetzung mit der Welt.“ Wo aber kann Bildung außerhalb der Schule stattfinden? Die erste Sozialisationsinstanz wäre das Elternhaus; viele Familien scheinen heute allerdings wegen mangelnder Vollständigkeit und auch im Hinblick auf ihre Überlastung in der hochzivilisierten Gesellschaft bei der Bildungsvermittlung überfordert. Die Berufsbildung dagegen ist zu sehr auf Effizienz am Arbeitsplatz ausgerichtet, um geistige, soziale und emotionale Schlüsselqualifikationen vermitteln zu können. Bleibt als Sozialisationsinstanz die außerschulische Bildung, die mit ihren Wurzeln in der Arbeiterbewegung und der Jugendbewegung vor allem im Bereich der kulturellen Jugendbildung prädestiniert erscheint, die notwendige Bildung an jungen Menschen zu leisten, um ihnen „ein Leben im aufrechten Gang“ (Ernst Bloch) zu ermöglichen. Der Bedeutungszuwachs der kulturellen Jugendbildung lag in den letzten dreißig Jahren vor allem darin, dass sie jungen Menschen dazu verhalf, ihre „Antennen zu putzen“, damit sie auf Sinnsuche gehen konnten. Dazu war die Ausbildung der sinnlichen Wahrnehmung ebenso nützlich wie das Probehandeln mit künstlerischen Mitteln. So weit, so gut. Wäre da nicht die Jugendarbeitslosigkeit, die sich zu einem gesellschaftlichen Problem ausgewachsen hat, das dringend gelöst werden muss. Nach dem Motto „erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“ (Brecht) wird die Beseitigung der Jugendarbeitslosigkeit zum vorrangigen jugendpolitischen Ziel erklärt, dem auch die außerschulische Bildung zu dienen hat. Damit gerät die Bildung auf eine andere Wellenlänge: Während das Bildungsbemühen den kontinuierlichen langen Atem benötigt, um Nachhaltigkeit erzielen zu können, braucht das politische Ziel der Beseitigung von Jugendarbeitslosigkeit die schnelle Innovation und den kurzfristigen Erfolg. Dass das Anstreben kurzfristiger politischer Ziele zu einer hemmungslosen Überpädagogisierung verführt, sei nur am Rande erwähnt. Bedeutsamer erscheint das – möglicherweise nicht einmal beabsichtigte – Überwechseln von der langen Welle des Sinns auf die kurzen Wellen der Zwecke. Dass diese Entwicklung weitgehend unbemerkt bleibt, hängt auch damit zusammen, dass die im Kontext des Bildungsbemühens entwickelten Begrifflichkeiten nach wie vor verwendet werden. Nur wird zum Beispiel „Schlüsselqualifikation“ nicht mehr auf die Lebensbewältigung bezogen, sondern auf die Bewältigung des Problems, einen Arbeitsplatz zu finden. Wenn der Arbeitsplatz nach zwei Jahren wegrationalisiert wird , ist das ein hinzunehmender Schicksalsschlag. Jedenfalls hat man zunächst einmal einen zählbaren Erfolg gehabt. Solchermaßen in die Pflicht genommen, muss die auf Langfristigkeit angelegte Bildung kurzatmig werden. In manchen Bildungsstätten hört man schon förmlich das Keuchen. Der frühere Nürnberger Kulturdezernent und kulturpolitische Vordenker Hermann Glaser hat einmal gesagt, Aufgabe der Kulturpolitik sei es, die Räume weit zu machen, „damit der Geist wehen kann, wo er will und nicht wehen muss, wo er soll“. Ähnliches galt bislang auch für die Jugendförderung, wo die Autonomie der Träger der freien Jugendhilfe und das Subsidiaritätsprinzip nach wie vor gesetzlich festgeschrieben sind. Und doch werden auch hier die Räume enger, weil die Öffentlichkeit nicht mehr bereit ist, auf Qualitätsnachweise zu verzichten. Da der Computer nun einmal zur Digitalisierung des Denkens hinführt, müssen auch Bildungsbemühungen messbar sein und, wo sie es nicht sind, messbar gemacht werden. Nun liegen die eigentlichen pädagogischen Wirkungen in Einstellungs- und Verhaltensänderungen, und hier gibt es beim besten Willen nichts Digitalisierbares. Also misst man die Wirkung auf die Öffentlichkeit, im eigentlichen Sinne also die Öffentlichkeitsarbeit oder die Werbung. Mit anderen Worten: man poliert die Oberfläche (englisch surface) und gibt das als den Erfolg im Inhaltlichen aus. Nicht von Ungefähr nimmt der Begriff des Surfens im neudeutschen Sprachschatz einen so hervorragenden Platz ein. Dieses Gleiten an der Oberfläche gelingt um so besser, je höher das Tempo ist. Und um so eindeutiger wird das In-die-Tiefe-gehen vermieden. In dieser Zange aus Kurzfristigkeit des Erfolgs und Messbarkeit der eigenen Leistung scheint die Bildung keine Chance mehr auf Entfaltung zu haben. Die Protagonisten der neuen Richtung kümmert das freilich wenig. Sie empfinden Kurzatmigkeit als Dynamik und Messbarkeit als Realitätsnähe. Und so surfen sie dahin im selbstgemachten Wind.

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