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Der Berg muss zum Propheten gehen

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Zum Festival Neue Musik „Pyramidale“ in Marzahn-Hellersdorf 2011
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Der Berliner Stadtbezirk Marzahn-Hellersdorf ist eine der größten Plattenbausiedlungen Europas. Sozial ein Problemherd, kulturell eine Wüste. Seit zehn Jahren findet dort das Festival für Neue Musik „Pyramidale“ statt. Es ist nach seinem Hauptspielort, einem pyramidenförmigen Gebäude, benannt. Für die Realisierung des diesjährigen Jubiläumsprogramms unter dem Motto „zick.zack“ erbrachten unter anderen das Sonic.art Saxophonquartett, Sopranistin Katia Guedes, Kontrabassist Matthias Bauer und Tänzerin Kazue Ikeda einen ganzen Tag lang künstlerische Hochleistung.

Man fragt sich natürlich, wer dieses Festival eigentlich besucht, zumal mit großem Andrang von Seiten der Bezirksbewohner nicht zu rechnen ist und Marzahn von der Berliner Innenstadt eine gefühlte Ewigkeit entfernt liegt. Diesem Problem entgegenzuwirken, realisierte künstlerische Leiterin Susanne Stelzenbach vor einigen Jahren die Idee, das Festival-Programm bereits in einer Trambahn beginnen zu lassen, die das Publikum vom Stadtzentrum nach Marzahn bringt. Die „Tramophonie“ ist mittlerweile zur Tradition geworden. Dieses Jahr nahm der Komponist Peter Köszeghy die Sache in die Hand und gestaltete eine in ihrer Absurdität beängstigend real wirkende Stimmperformance: was zunächst harmlos beginnt, artet im langsamen Crescendo in den Eklat aus. Der elektronisch verzerrte Diskurs zwischen den zwei Protagonisten eskalieret: Laptops zerschellen, Farbe spritzt – dann betretenes Schweigen, das nur eine zaghaft improvisierende Trompete zu brechen weiß. Die beklemmenden Klänge treffen den Ton, gehen sie doch Hand in Hand mit der Beklommenheit, die man verspürt, während man gut 20 Minuten durch einen Wald gesichtsloser Hochhaussiedlungen fährt.

Beim Bestreben, zeitgenössische Kultur in diesem als kultur- und bildungsfern verschrienen Bezirk zu etablieren, ist es natürlich entscheidend, dass sie nicht nur da stattfindet, sondern auch von den Bezirksbewohnern besucht wird. Da in diesem Fall der Prophet gewiss nicht zum Berg kommen wird, muss eben der Berg zum Propheten gehen – und der tummelt sich an einem Samstagnachmittag mit Vorliebe im Eastgate Einkaufszentrum. Das dort uraufgeführte Werk von Henry Mex für Kontrabass und Tanz vermochte aber hauptsächlich Kleinkinder zu faszinieren. Weniger fasziniert zeigten sich ihre blutjungen Eltern, die naserümpfend ihre begeistert klatschenden Sprösslinge zum Weitergehen zu bewegen versuchten. Dieses Szenario spricht Bände.  

Weitere Begegnungen mit der Bezirksbevölkerung gab es in der „Galerie M“ sowie im Vergnügungs-Center „Le Prom“, wo trotz des hartnäckigen Hintergrundgeräusches einer Popcorn-Maschine das filigrane Werk „Schwestern“ des Schweizer Komponisten Max E. Keller uraufgeführt wurde. Sympathisch war dabei nicht zuletzt, mit welcher uneiteln Gelassenheit Musiker und Komponisten die suboptimalen Umstände in Kauf nahmen. 

Wenn ein solcher Gruppenausflug auch nicht jedermanns Sache ist und die Hoffnung, auf diese Weise lokales Publikum zu gewinnen etwas gar optimistisch anmutet, so muss man doch die alte Sentenz gelten lassen: ut desint

vires, tamen est laudanda voluntas – wenn auch die Kräfte fehlen, so ist doch der gute Wille zu loben.  

Beim Konzert am Abend fanden neben Werken von Martin Daske, Gabriel Iranyi, Jacob Druckmann, Georg Katzer, Susanne Stelzenbach, Laurie Schwarz und Hans-Joachim Hespos auch Uraufführungen von Thomas Gerwin, Markus Bongartz, Rainer Rubbert und Helmut Zapf statt. Dies nun in der besagten Pyramide, die zum zehnjährigen Jubiläum gemäß dem Festival-Thema „zick.zack“ eine prominente Rolle spielen sollte: das Programm war in alle Ecken und Ebenen des verwinkelten Baus hineininszeniert, so dass die einzelnen Werke direkt ineinander übergingen und der klangliche Fokus stets im Raum wanderte. Musikergruppen waren an verschiedenen Stellen des zick-zack-förmigen, mitten durch Raum und Publikum verlaufenden Ganges positioniert oder bewegten sich während des Spiels im Raum, wodurch immer wieder neue Hörperspektiven entstanden. Während nicht alle Kompositionen von dieser räumlichen Inszenierung profitierten, gab es aber Werke, bei denen gerade dadurch etwas ganz Atmosphärisches frei wurde. So zum Beispiel bei der Uraufführung von Markus Bongartz’ Werk „Marmorbilder“, wo die im Zickzack angeordnete Besetzung aus zwei Saxophonen, Perkussion und einer Sängerin, weniger zum Publikum, als zueinander spielten, was die Intimität und Fragilität dieser Musik noch intensivierte:

Dem familiären und ungezwungenen Charakter des Festivals entsprechend ist den beauftragten Komponisten trotz des Festivalthemas inhaltlich vollkommen freie Hand gelassen; lediglich die Besetzung steht fest. Vergüten kann das Festival die Kompositionsaufträge aufgrund der Budgetknappheit nämlich nicht. Dennoch sind die ausgewählten Komponisten meist gerne bereit, den Auftrag anzunehmen. Immerhin, erklärt Markus Bongartz, bietet es die Möglichkeit, mit hervorragenden Musikern zu arbeiten, was durchaus ein Privileg ist. Eine Portion Mut gehört schließlich und endlich auch dazu, denn es ist wesentlich risikoreicher, ein Uraufführungsfestival mit vorwiegend weniger etablierten Komponisten zu veranstalten, als mit jenen, die schon längst auf dem  Karussell der renommierten Festivals mitfahren und so im Schutze des Trends stehen. Diese würden sehr wahrscheinlich gar nicht nach Marzahn kommen, vermutet Festivalleiterin Stelzenbach. Zudem steuert sie bei der Komponistenwahl dem bekannten Ost-West-Ungleichgewicht der Berliner Szene mit ein wenig ausgleichender Gerechtigkeit entgegen, obschon sie betont, dass dies gewiss nicht das Hauptkriterium sei. 

Mit wenig Glamour und viel Engagement erfüllt das Festival „Pyramidale“ an der östlichen Peripherie auf diese Weise gleich mehrere Desiderate der hauptstädtischen Kulturlandschaft und setzt einen selbstbewussten Gegenakzent zur Prestige-Kultur. Bleibt zu hoffen, dass der ein oder andere Marzahner auf den Geschmack kommt. 

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