Am Anfang stand eine These: Deutschland wird sich in den nächsten Jahrzehnten weg vom Produktionsstandort und hin zur Wissensgesellschaft entwickeln. Innovation und Kreativität werden einen immer höheren Stellenwert einnehmen. Welche Bedeutung dieser Wandel für den Berufsstand des Musikers und aller anderen Musikberufe hat, damit beschäftigten sich im März die Teilnehmer einer Expertentagung unter dem Motto „Zukunft der Musikberufe“. Der Deutsche Musikrat lud circa 230 Entscheidungsträger des deutschen Musiklebens in die Bundes- und Landesmusikakademie Rheinsberg, 70 von ihnen folgten dem Ruf in die idyllische markbrandenburgische Begegnungsstätte.
Musiker, Pädagogen – vom Schulmusiker bis zum Hochschulprofessor –, Komponisten, Manager aus der Verlags- und Veranstaltungsbranche, Medienvertreter und Kommunalkulturpolitiker waren aufgefordert, Erfahrungen auszutauschen und Zukunft nicht nur voraus zu denken, sondern Zukunft gemeinsam zu gestalten. Mit der Tagung sollte in Rheinsberg auf breiter Basis ein Dialog zwischen Berufspraxis und Berufsausbildung entstehen. Anhand von Fragebögen, die alle Teilnehmer bereits im Vorfeld erhielten, wurde eine Bestandsaufnahme zur gegenwärtigen Situation der Musikberufe in den jeweiligen Branchen erarbeitet. Tendenzen, die sich daraus ergaben, waren dann der Ausgangspunkt der Diskussion in fünf Arbeitsgruppen: Printmedien und deren Management; Rundfunk und Tonträgerindustrie; Konzertwesen auf und hinter der Bühne und in freien Ensembles; Veranstaltungswesen und Kulturarbeit in Kommunen; Musikpädagogen in Schule, Musikschule, privatem Unterricht, Kirchenmusik und Hochschulen. Vier Leitreferate, gehalten vom Pädagogikforscher Karl-Jürgen Kemmelmeier, vom Soziologen Tilmann Allert, vom Komponisten Friedrich Schenker und vom Musikmarktexperten Dieter Gorny, sollten die Tagungsteilnehmer sensibilisieren und auf die Thematik einstellen. Bereits hier wurde eine Tendenz vorgezeichnet, die sich durch die gesamte Tagung ziehen sollte: die Rolle der Vermarktung der Musikaus-übenden aller Sparten.
Eine Wechselwirkung zwischen Musik und Markt, die in Westeuropa längst keine Hürde mehr zu sein scheint, findet in Deutschland schlichtweg nicht statt, so Gorny in seinem Leitreferat. Alarmierend ist, dass jährlich 5.000 Musikhochschulabsolventen ins Berufsleben einsteigen, hier aber lediglich 850 feste Stellen in Kulturorchestern vorfinden. Allein die Arbeitsagenturen der Bundesanstalt für Arbeit verzeichnen im Jahr 2006 circa 7.000 Arbeitslose in Musikberufen. Hinzu kommt die obligatorische Dunkelziffer. Diese Situation wird zunehmend verschärft durch den ständig fortschreitenden Abbau von Orchesterstellen durch kommunale Träger. Freiberufliche Tätigkeit ist vorprogrammiert. Es ist also zwingend notwendig, die Studierenden neben der Vermittlung ihrer Kernkompetenz auf diese Situation vorzubereiten und ihnen die Fähigkeit zum Selbstmanagement bereits an den Hochschulen zu vermitteln. Darin waren sich alle Tagungsteilnehmer einig. Über die Umsetzung wurde dann freilich diskutiert. Sollen Management und Marketing ins Curriculum aller Hochschulen aufgenommen werden oder die fakultativen Angebote, die an einigen Hochschulen bereits allgemein gültig sind, ausgebaut werden? Ein weiterer wichtiger Aspekt bei der Vorbereitung auf den sich verändernden Markt wird künftig die Vermittlung sozialer und psychologischer Kompetenz und die Stärkung der Persönlichkeit jedes einzelnen Studierenden sein. Eine Herausforderung ist hierbei die Umstellung auf Bachelor- und Masterstudiengänge, die als Chance genutzt werden könnte. Dennoch ist es fraglich, ob und wie Studierende in der Lage sein werden, während einer de facto verkürzten Studienzeit ein solches Pensum zu bewältigen. Lebenslanges Lernen und das Einstellen auf neue berufliche Situationen sind deshalb in so genannten „Patchwork-Karrieren“ unumgänglich. Der Komponist und Hochschullehrer Friedrich Schenker, der sich in Rheinsberg zunehmend im „Marx-freien Raum“ wähnte, kann sich eine solche Selbstvermarktung nur schwer vorstellen. Er ist nicht bereit, sein Werk „künftig per Bauchladen feil zu bieten“.
Ein heikler Diskussionspunkt war der Anteil ausländischer Studierender an deutschen Musikhochschulen. Hier sagt die Statistik des Deutschen Musikrates (im MIZ einzusehen) aus, dass 29 Prozent der Studienplätze aller Musik-Studiengänge von ausländischen Studierenden besetzt sind. Beim Lehramt Musik an allgemein bildenden Schulen macht die Zahl lediglich zwei Prozent aus, bei Instrumentalmusik/Orchestermusik hingegen 55 Prozent. Hier fordern die Tagungsteilnehmer die Musikhochschulen auf, Chancengleichheit für deutsche Studienbewerber herzustellen. Diese sehen sich zu oft ausländischen Mitbewerbern gegenüber, die ein abgeschlossenes Studium aus ihren Heimatländern mitbringen. Die Forderung ist nicht neu, sagte doch Hartmut Karmeier bereits anlässlich seiner Wahl ins Präsidium des Deutschen Musikrates vor fast zwei Jahren, dass Chancengleichheit bei den Aufnahmeprüfungen an den Musikhochschulen hergestellt werden müsse.
Die Konsequenz veränderter Zugangvoraussetzungen, die Friedrich Schenker nicht ganz unberechtigt als „Rassismus“ bezeichnete, ist für Musikhochschulen nicht schwer vorauszusagen. Bemerkte doch Gudrun Heyens, Professorin an der Folkwang Hochschule, dass es deutschen Bewerbern an ihrer Hochschule zunehmend an den Voraussetzungen zur Aufnahme eines Studiums fehlt.
Und hier ist des Pudels Kern zu finden. Um Musik marktfähig zu machen und Musikberufen eine Zukunft zu geben, muss auch ein Markt vorhanden sein. Dieser entwickelt sich bekanntermaßen aus einem Bedürfnis heraus. Dies zu erwecken und zu entwickeln ist nach wie vor Aufgabe der Musikvermittlung. Musikalische Bildung in allen Bereichen, vor allem aber für Kinder und Jugendliche, gehört zu den Voraussetzungen des Funktionierens einer Wissensgesellschaft. Markt und Gewinnoptimierung dürfen gerade hier keine Rolle spielen. Bildung bedarf eines Schutzraumes, der von der Gesellschaft getragen wird und den es jenseits des Marktes nicht nur zu erhalten sondern auch auszubauen gilt. Hier müssen Wege und Partnerschaften zwischen öffentlichen Institutionen und Musikvermittlern gefunden werden, von denen letztendlich alle profitieren. Neben der Politik ist auch der gebührenfinanzierte öffentlich-rechtliche Rundfunk aufgefordert, den Bildungsauftrag wieder stärker ins Zentrum seiner Aktivitäten zu rücken. Das im März in Kraft getretene UNESCO-Übereinkommen zur kulturellen Vielfalt, dem auch Deutschland zugestimmt hat, könnte hier als wirksames Instrument genutzt werden. Das Abkommen schreibt fest, dass sich Kultur nicht an die Gesetze der Marktwirtschaft halten muss. Musik, Film, Fernsehen und Literatur müssen keinen Gewinn abwerfen. Öffentliche Kulturförderung und Bildung erhalten so gegenüber drohenden wettbewerbsrechtlichen Einschränkungen eine neue Legitimation.
Tagungen wie die in Rheinsberg sind Plattformen, die dazu beitragen können, solch eine neue Legitimation zu definieren und Denkanstöße bei Entscheidungsträgern in Politik und Gesellschaft zu initiieren. Die „Rheinsberger Erklärung“, das Resultat der dreitägigen Tagung, ist hier nur ein kleiner Hebel, der noch keinen Stein ins Rollen bringt. Deshalb soll die Tagung in zwei Jahren fortgesetzt werden. Viel Zeit, um vorhandene Kräfte zu bündeln und noch mehr kompetente Köpfe ins Boot zu holen. Zu überdenken wäre zum Beispiel eine Zusammenarbeit mit der Projektgruppe „Aufbruch Musik“, die seit einem Jahr im Rahmen eines „Foresight“-Prozesses Zukunftsszenarien des Musiklebens erarbeitet und Handlungsmodelle entwickelt. Auch die Union Deutscher Jazzmusiker, die erst kürzlich ein Eckpunktepapier zur Situation der Jazzmusiker formulierte, könnte sich mit einbringen. Damit viele kleine Hebel, zeitgleich angesetzt, den Stein in Bewegung setzen.