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Des Kaisers prächtig singende Nachtigall

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Zu den 52. Sommerlichen Musiktagen in Hitzacker
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Von Grenzüberschreitungen in der Musik ist seit etlichen Jahrzehnten die Rede, immer dann, wenn überkommene Formen nicht mehr das Gerüst einer neuen Tonschöpfung sind, sondern um völlig neuen Ausdruck gerungen wird. Neue Tonelemente und Klangrevolutionen verdrängen alte Auffassungen von darzustellender Musik. Diese Grenzüberschreitungen bahnten sich neben Althergebrachtem auch bei den von Professor Claus Kanngiesser künstlerisch geleiteten 52. Sommerlichen Musiktagen Hitzacker einen breiten Weg zum Hörer. In diesem Jahr kam der 1930 in Amsterdam geborenen Theo Loevendie. Am ersten Abend begegnete man, vom hervorragenden Stuttgarter Kammerorchester unter Bernd Ruf interpretiert, seinen „Vueltas für Streicher und Schlagwerk“. Hitzacker erlebte die deutsche Erstaufführung. Das eigenwillige Werk vereint raffiniert gesetzte polymotorische Effekte mit morseähnlichen Rhythmen und hartnäckigen Ostinati. Der Amerikaner Dennis Russel Davies, seit 1995 Chefdirigent der angesehenen Stuttgarter Gäste, gebärdete sich an ihrem zweiten Konzertabend als emsiger Anwalt eines früheren Hitzacker-Preisträgers, als er Heinz Winbecks „Winterreise – Stationen für 19 Solostreicher“ (1996) vorstellte. Die bildeten keine Ergänzung zu Schuberts Winterreise, konfrontierten mit einer mehr unklaren als verdeutlichenden Neuschöpfung, eine Grenzüberschreitung, die Schubert nicht erhellte, ihn aber ins Gedächtnis rief. Es bleibt demgegenüber festzuhalten, daß das hochmotivierte Stuttgarter Kammerorchester Johann Sebastian Bachs 3. Brandenburgisches Konzert G-Dur in einer einmalig stimmigen Balance und virtuosen Sorgfalt zu Gehör brachte. Das hatte Stil, gefiel in der barocken Sinnenfreude und der urmusikantischen Spiellust. Benjamin Hudson führte brillant an. Ein großer Wurf gelang auch mit der Verpflichtung des Leipziger Streichquartetts. Die jungen Solisten überzeugten in Janáceks erstem Quartett und in Schuberts Quartettsatz c-Moll durch ihre frische-intensive Sprache und eine sublime Klangentwicklung, ein Hörvergnügen auch die klingende Stille in Weberns Sechs Bagatellen op. 9 und der heitere Durton in Brahms’ genialem dritten Quartett, eine trefflich geschlagene Bresche für die Streichquartettkunst überhaupt. An einem weiteren Abend war Loevendies preisgekrönte Erzählung „Des Kaisers Nachtigall“ nach Hans Christian Andersen zu hören. Auge und Ohr bot sich ein wunderschönes Märchen von kindlich bunter Phantasie. Die Rede kreiste wie im Traum um des Kaisers prächtig singende Nachtigall. Annette Bieker vom „Theater Kontrapunkt“ glänzte in ihrer schauspielerischen Paraderolle, ihrer Wandlungsfähigkeit, ihrer Sprachkunst. Am dritten Loevendie-Tag erlebten die Festivalbesucher die mit Spannung erwartete Uraufführung der „Ackermusik für Violine, Violoncello und Klavier“, einer Auftragskomposition der Sommerlichen Musiktage Hitzacker, von Vera Beths (Violine), Claus Kanngiesser (Violoncello) und Marja Bon (Klavier) in die rechte Form gegossen. Das Werk, eine Anspielung auf Hitzacker, ist nach den Worten Loevendies „...in einer Mosaikform von fünf sich wiederholenden Elementen komponiert.“ Sie zielten in ihrer kontemplativen Natur auf den Charakter eines atmenden Sommerackers, auf die geheimnisvoll vibrierende mittägliche Ruhe der weit umgebenden Landschaft. Vokabeln des Jazz unterbrachen diese Ruhe, bildeten einen Kontrapunkt zum Urgefüge. Loevendie beteuerte in einem Studiogespräch, daß Jazzelemente hier wie in all seinen Tonschöpfungen mehr unbewußt einfließen. Schade, daß die Besucherreihen im großen Konzertsaal hin und wieder empfindliche Lücken zeigten. Das bereitet den Verantwortlichen große Sorgen. Der Grund ist im Fehlen großer Sponsoren und noch mehr in der mangelnden Bereitschaft bestimmter Medien zu suchen, die kaum werbend für Hitzacker in die Bresche springen, dafür für nördliche und andere Ereignisse recht einseitig die Werbetrommel schlagen. Ohne Zugpferd fährt aber leider der bestbestückte Wagen nicht.

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