In den 56 Jahren seines Bestehens hat der Deutsche Musikrat zahllose Wandlungen und Fortschritte gemacht und ist inzwischen zu einer ebenso anerkannten wie einflussreichen Größe im deutschen Kulturleben geworden. So wertvoll und bedeutsam diese Position auch sein mag: Der Entwicklungsprozess muss weitergehen. Die Suche nach neuen Handlungsmodellen sowie deren beständige Evaluation und Optimierung sind wesentliche Voraussetzungen, um dem Musikrat eine Zukunft als essentielle Kulturinstitution zu sichern. Erstes Ziel muss dabei sein, Musik in allen ihren Erscheinungsformen zu stützen, das Musikleben in Deutschland zu bewahren und zu fördern sowie Voraussetzungen für eine qualitativ hochwertige Musikpraxis zu schaffen. Vier Themenkreise werden die Zukunft der Arbeit des Deutschen Musikrates entscheidend bestimmen: Vielfältigkeit, Nachhaltigkeit, Qualität und Innovation.
I. Vielfalt
Der Deutsche Musikrat als größter nationaler Musikdachverband zeichnet sich durch die Verschiedenartigkeit seiner Mitglieder aus. Der Vielfalt eines intakten Ökosystems vergleichbar, treten hier „Lebensformen“ in Interaktion, die trotz ihrer je eigenen Dynamik und Komplexität der Erhaltung und Entwicklung eines übergeordneten Gefüges verpflichtet sind: der Musikkultur in all ihren Facetten. In der Struktur des Musikrates kommen unterschiedlichste Perspektiven gleichberechtigt zu einem Ganzen zusammen – engagierte Laienchorsänger finden sich neben Vertretern der Musikwirtschaft, Komponisten und Interpreten der zeitgenössischen Musik neben Popmusikern, Pädagogen und Musikvermittler treffen auf Fachleute für Alte Musik oder Jazz. Innerhalb der einzelnen Sparten existieren wiederum diversifizierte Projekte und weitere Auffächerungen der Interessen. Damit stellt der Musikrat eine einzigartige Organisation dar, in der die spezifischen Interessen seiner Mitglieder nicht in eine unüberschaubare Vereinzelung geraten, sondern durch Kraft und Einfluss eines institutionellen Handlungsinstruments eine nachhaltige Bündelung und Stärkung erfahren.
Die Vielfalt und das Engagement der vom Musikrat vertretenen Gruppen wird in diesem Jahr erstmals im Rahmen des „Tages der Musik“ mit Veranstaltungen im gesamten Bundesgebiet vorgestellt. Eine solche Plattform ist ein absolut notwendiges Novum, das gleichermaßen der Präsentation der Vielfalt wie der Schaffung eines öffentlichen Bewusstseins für die Verbesserung der Rahmenbedingungen des Musiklebens gilt. Ein Mehrwert dieser Veranstaltung ist zweifellos auch die gegenseitige Wahrnehmung der unterschiedlichen Projekte und Realisationsformen, die idealerweise zur Interaktion, zur gegenseitigen Befruchtung und zu neuen Kontakten führen kann. Solche Vernetzungen gilt es seitens des Musikrates explizit zu fördern. Voraussetzung dafür ist eine aufmerksame und sensible Beobachtung der Arbeit der einzelnen Mitgliedsorganisationen: Welche Aktivitäten sind ge-plant? Wo gibt es sich kreuzende Interessen? Wo könnten Synergieeffekte entstehen? Dem Musikrat kommt hier die Aufgabe zu, Initiativen für ein gemeinsames Handeln zu entwickeln.
II. Nachhaltigkeit
In einer auf rasche, möglichst mühelose Erfolge ausgerichteten Gesellschaft ist Musik ein wichtiger Gegenpol. Angefangen bei der Tatkraft und Beharrlichkeit, derer es bedarf, um ein Instrument zu erlernen, erweisen sich Dauerhaftigkeit und Durchhaltevermögen als genuine Werte im musikalischen Handeln. Die Übertragung schnelllebiger Erfolgsmodelle auf die Musik ist dagegen kaum zu leisten. Kommerzielle Verwertungsmaschinerien der Couleur „Deutschland sucht den Superstar“ geben davon ein lebhaftes Zeugnis: Im günstigsten Fall wird der Musikmarkt mit einem weiteren „One-Hit-Wonder“ bestückt – die Schaffung eines nachhaltigen musikalischen Werts oder einer auch nur mittelfristigen Perspektive für den Menschen, der für das Produkt herhalten muss, bleibt aus.
In der Arbeit des Deutschen Musikrates findet sich ein drastischer Gegenentwurf zum profitorientierten, auf raschen Erfolg zielenden Gebaren weiter Teile der Musikindustrie. Beispielhaft kann hier das Projekt „Konzert des Deutschen Musikrates“ genannt werden. Hier wird nach einer Maxime gearbeitet, die sich auf den Dreischritt „Qualität – Vermittlung – Experiment“ verkürzen lässt: Neben der Innovationskraft und der Präsentation auf höchstem Niveau wird besonders auf die Zukunftsfähigkeit der geförderten Konzepte geachtet, indem sich das Präsentierte auch in der Vermittlungssituation bewähren muss. Auf diese Weise wird der unmittelbare Nachvollzug der Entstehung musikalischer Neuerungen möglich – das Erlebnis lebendiger Musikgeschichte. Als weiteres Beispiel kann die Weiterentwicklung der CD-Reihe „Edition Zeitgenössische Musik“ angeführt werden. Seit 2007 wird in Zusammenarbeit mit dem Schott-Verlag und nmzMedia multimediales Begleitmaterial zu Neuerscheinungen der Reihe produziert, das im Rahmen des schulischen Musikunterrichts genutzt werden kann.
Diese Prinzipien einer anschaulichen Musikvermittlung und der Förderung des musikalischen Experiments auch auf weitere Bereiche im Deutschen Musikrat zu übertragen, kann nur erfolgreich sein. Anstelle eines Verharrens auf bewährten Präsentationsformen und erprobten Repertoires muss die Suche nach dem tragfähigen Neuen treten – die aktive Schaffung nachhaltiger musikalischer Werte. Dazu ist es nötig, die Vielfalt der im Musikrat vertretenen Sparten produktiv zu nutzen: Etwaige Vorbehalte gegen jeweils andere Bereiche müssen abgebaut werden, ein reges Interesse an deren Arbeit sollte selbstverständlich sein. Weiterhin ist eine Erhöhung des Etats des Projekts „Konzert des Deutschen Musikrates“ unumgänglich, da sich infolge der weiterführenden Förderung innovativer Konzepte dessen Aufgaben erweitern werden. Ebenso müssen der Ausbau des Musikinformationszentrums sowie die Erstellung von Online-Angeboten essentielle Aufgaben des größten deutschen Musikverbands sein, da die Dokumentation aktueller Entwicklungen eine ideale Basis für gezieltes Handeln ist. Auch ein Projekt wie der Arbeitskreis Musikjournalismus kann als beispielhaft angesehen werden, da er mit der Förderung journalistischer und wissenschaftlicher Arbeit zusätzliche Nachhaltigkeit gewährleistet.
III. Qualität
Ziel der Arbeit des Musikrates muss es sein, in allen Bereichen der Musik zu Spitzenleistungen anzuspornen. Es gilt, in jedem Bereich spezifische Kriterien aufzustellen, die zu herausragenden, öffentlichkeitswirksamen Leistungen motivieren. Bescheidenheit würde sich hier kontraproduktiv auswirken: Gefragt ist eine Positionierung, die den Vergleich mit anderen Musikinstitutionen im In- und Ausland nicht zu scheuen braucht. Initiativen und Projekte des Deutschen Musikrates müssen ein Synonym für qualitativ hochwertige, international wettbewerbsfähige Kulturarbeit werden.
Gegenwärtig realisiert der Musikrat diese Form der Exzellenzförderung im Rahmen von Projekten wie „Jugend musiziert“, im Deutschen Musikwettbewerb oder im Dirigentenforum. Hier werden einerseits Spitzenleistungen gefördert und honoriert, andererseits wird, zusätzlich zur Fachöffentlichkeit, ein breites Publikum erreicht. Eine öffentliche Präsenz ist im Rahmen solcher Projekte von besonderer Wichtigkeit, nicht zuletzt wegen des wünschenswerten Anreizes zur Nachahmung, dem „Me-too-Effekt“ beim potentiellen Nachwuchs.
Die Exzellenzprojekte des Deutschen Musikrates haben sich als bewährte und öffentlich angesehene Modelle etabliert; die Attraktivität eines Musizierens auf höchstem Niveau wird hier weithin greifbar. Die Strahlkraft dieses Modells muss auch auf andere Bereiche übertragen werden. Eine qualitative Anhebung des Niveaus im Bereich der Förderung von Spitzennachwuchs der zeitgenössischen Musik, beispielsweise durch das Projekt „WESPE“, einer neuen Entwicklung von „Jugend musiziert“, ist zu honorieren. Ziel der Bestrebungen muss aber zudem eine flächendeckende und umfangreiche Arbeit sein. Die Integration von zeitgenössischer Musik höchster Güte bereits in jungen Jahren sollte ein Ziel der Fördermaßnahmen sein. Dafür müssen die Instrumentallehrer und die Juroren aller Wettbewerbe in der Beurteilung von Leistungen der aktuellen Musik gefordert und gefördert werden.
IV. Innovation
Der Deutsche Musikrat ist stets auf der Suche nach innovativen Modellen der Kulturförderung und in besonderer Weise an zukunftsorientierten Musikprojekten interessiert. Der ausgesprochen dynamische Bereich Pop sucht und entwickelt ständig neue Formate wie „PopCamp“ und ist mit dem Projekt „SchoolJam“ öffentlichkeitswirksam aufgestellt. Der Deutsche Musikwettbewerb hat die neue Sparte Komposition eingeführt. Neben der zeitgenössischen Musik als Pflichtfach im Deutschen Chorwettbewerb entsteht neue Chorliteratur im Rahmen des eigenen Kompositionswettbewerbs. Der Deutsche Musikwettbewerb fördert Bigband-Leiter und zeichnet mit einer Sonderwertung für die Interpretation zeitgenössischer Musik aus. Unter dem Stichwort „Grenzbereich Elektronik“ sollen in Zukunft die Aktivitäten im Sektor elektroakustische Musik ausgebaut werden, um den künstlerischen und technischen Entwicklungen in dieser Erscheinungsform der zeitgenössischen Musik Rechnung zu tragen. Diese kleine Auswahl zeigt deutlich, wie im Deutschen Musikrat kontinuierlich die Erschaffung Neuer Musik vorangetrieben wird. Hier gilt es aber in der Zukunft, weitere Schritte der Vernetzung zu gehen und vorhandene Fachkompetenzen zu nutzen.
Ein weiteres Beispiel für die erfolgreiche und innovative Arbeit des Deutschen Musikrates ist seine internationale Vernetzung. Hier sei insbesondere das Projekt „Turning Sounds“, eine Kooperation mit polnischen Veranstaltern und Musikern, genannt. In dieser Zusammenarbeit werden bislang ungenutzte Wege der Vermittlung beschritten und neues Terrain an ungewöhnlichen Schnittstellen zwischen Neuer Musik und Pop erkundet. „Turning Sounds“ kombiniert aktuelle Entwicklungen im Bereich der Turntable-Szene mit kompositorischen Näherungen und öffnet sich damit einem interessierten, jungen Publikum.
Von einem länderübergreifenden Austausch kann der Deutsche Musik-rat nur profitieren. Eine Intensivierung der Aktivitäten in diesem Feld ist daher unbedingt voranzutreiben. Neue Wege der Zusammenarbeit mit ausländischen Kulturinstitutionen, Komponisten und Interpreten müssen konzipiert werden; eine Öffnung des Deutschen Musikrates für die internationale Kulturarbeit ist im Zeitalter der globalen Vernetzung geradezu selbstverständlich. Die Position Deutschlands als Global Player der Kultur ist wesentlich davon abhängig, in welchem Grad eine internationale Kommunikation stattfindet. Hier besteht ein großer Handlungsbedarf, dem sich der Deutsche Musikrat aktiv stellen muss. Neben der Wahrung tradierter Werte ist die Suche nach neuen, zukunftsfähigen Ansätzen musikkultureller Arbeit eine Herausforderung, die sich eine Kulturinstitution dieses Ranges zur ersten Aufgabe machen sollte.
Die Qualität und die Dynamik, durch die sich die Arbeit des Deutschen Musikrates in über fünf Jahrzehnten ausgezeichnet hat, ist eine ideale Basis für künftige Entwicklungen. Das neu zu wählende Präsidium ist gefordert, mit Aufmerksamkeit und Weitblick auf den Grundlagen aufzubauen, um die Stellung des Deutschen Musikrates als zukunftsfähige Institution beständig zu optimieren. Viel ist bereits geleistet worden – und vieles steht an.
Der Autor ist seit 1993 Projektleiter des Bereichs Musik beim Siemens Arts Program und seit 2002 Präsident der Gesellschaft für Neue Musik, Deutschland