„In der Musiknation Deutschland ist der Zugang für alle Menschen zu musikalischer Bildung als wichtigem Kulturgut längst nicht mehr selbstverständlich“. Diese Wahrheit und noch viel mehr steht im „1. Berliner Appell“ des Deutschen Musikrates von 2003. Vom „Menschenrecht auf kulturelle Identität“ und dem Grundrecht auf musikalische Bildung ist die Rede. Sieben Thesen zur „Musik in der Schule“ unterstützen diese Forderungen.
Die Realität sieht dessen ungeachtet bitter aus. „Was, Musik?“ stöhnt die Lehrerin einer vierten Klasse, „das haben die doch an den weiterführenden Schulen gar nicht mehr. Eine Stunde höchstens, oder es fällt ganz aus. Und Kunst wird gestrichen.“ Was macht es da schon, wenn die Kinder ihrer Klasse nicht mehr singen können? Rechnen können sie ja. Hilft uns tatsächlich Mozart, um mit dem Leistungsdruck an deutschen Schulen klarzukommen? Oder Mambo, um sich in einer immer unübersichtlicheren Welt zu sozialisieren? Helfen Nischenkultur und Heiapopeiamultikulti, um endlich wieder „gute“ Deutsche zu sein? Oder geht es tatsächlich um mehr – um ein „artgerechtes“ Überleben aller Menschen in unserer Gesellschaft?
Der „2. Berliner Appell“ des Deutschen Musikrates, der in diesen Tagen veröffentlicht wird, muss daher konkreter werden. Vor der mentalen Kulisse brennender Straßen in Paris drängt sich die Frage nach interkulturellem Austausch, nach gegenseitiger Wahrnehmung und Wertschätzung unterschiedlicher sozialer Identitäten zwingend auf. „Parallelgesellschaften vermeiden“ ist denn auch eines der Stichworte zu Beginn der Tagung „Musikland Deutschland. Wie viel kulturellen Dialog wollen wir?“
Ein vielgelobter Denkzettel des Musikwissenschaftlers Hermann J. Kaiser liegt den Tagungsunterlagen bei. Er stellt fest „…dass dieses als homogen unterstellte ‚Wir‘ ein Patchwork-Wir ist“. Dank Teil- und Subkulturen. So stellen sich dann auch die tagenden Podiumsgäste zu Beginn ganz unterschiedliche Leit- und Sub-Kulturen vor. Michel Friedman, der die bürgerlichen Werte beschwört, sitzt auf dem Podium neben Michael Schindhelm, der hochsubventioniertes Theater machen kann und daher keinerlei Bodenhaftung benötigt. Martin Maria Krüger formuliert für den Deutschen Musikrat, sanft aber klar, seine Zielsetzung neben Cem Özdemir, der wieder und wieder an die deutsche suboptimale Wirklichkeit erinnert. Dringlichkeit ist gegeben, die Tagung tagt im richtigen Moment und startet in verschiedene Gesprächsrunden, die, am Ende zum „2. Berliner Appell“ zusammengefasst, politische Tragkraft entwickeln sollen.
Gelungen, ein musikalischer Auftakt mit chinesischer Mundorgel Sheng und Saxophon. Da zelebrieren zwei Musiker Dialog ohne Worte schon mal vorab auf der Bühne und damit ist klar: Musik kann das! Musiker können Verständigung schaffen, wo Worte noch lange fehlen. Musik könnte als kommunikative Kernkompetenz im Bildungskanon dienen, sie kann Gräben überspringen, kann Gemeinsamkeit schaffen zwischen den Kulturen, kann Andersartiges, kann Neues formulieren, kann auf Augenhöhe gegenseitig Wert schätzen, quod erat demonstrandum.
Hans Bäßler, Vize-Präsident des Deutschen Musikrates, wendet sich der aktuell wieder aufgeflammten Debatte um die deutsche Leitkultur zu: Er erinnert an den siebenseitigen Werke-Katalog der Konrad-Adenauer-Stiftung, mit dessen Hilfe umfassende musikalische Allgemeinbildung vermittelt werden soll. Dem gegenüber stellt Hans Bäßler die Europäische Tradition der Aufklärung mit Demokratie, Toleranz und Rationalismus und strikter Trennung von Staat und Religion. Er fordert Kulturpluralismus und Wertekonsens statt Multikulturalismus ohne Wertekonsens. Daraus formuliert sich zwingend die Frage, wie entwickelt sich eigentlich kulturelle Identitätsbildung?
„Die individuelle Identität ist ein subjektiver Konstruktionsprozess, eigene subjektive Erfahrungen können gleiche Schnittmengen mit anderen bilden.“ Bäßler gesteht der Musik stärkere Identitätsbildung zu als anderen Künsten. Sie wird sich auflehnen gegen Gleichmacherei, immer und über-all. Ihre Macht ist demonstrativ bestätigt worden, gerade durch ihr Verbot. Durch die moralisch-musikalische Enteignung während der Nazi-Herrschaft oder durch die vollkommene Entkernung einer Gesellschaft vom musikalischen Tun, wie jüngst in Afghanistan unter der Herrschaft der fundamentalistischen Taliban.
Eine „Leitmusik“, etwa bürgerlicher Art, die von Teilen der Gesellschaft abgelehnt wird, kann niemand wollen. Durchdringung, Hinterfragen, Neudiskutieren der vorhandenen Musikkulturen schon eher.
Christian Höppner schrieb jüngst in der nmz: „Mulitkulti gibt es nicht. Aber kulturelle Vielfalt.“ Und sagt im Interview: „Deutschland ist ja immer stärker vernetzt mit den Ländern um sich herum, wir haben eine zunehmende Migration, wir haben einen zunehmenden Reichtum der Kulturen in unsrem Land. Die Dinge, die den Rahmen bestimmen, müssen politisch bewegt werden. Und sie werden zunehmend auf der europäischen Bühne für uns gestrickt, diese Rahmenbedingungen und dieses Bewusstsein hier zu schaffen, dass wir hier andere Rahmenbedingungen brauchen, um Begegnungen zu ermöglichen in Deutschland, das ist das Ziel dieser Tagung.“
Gelungene Modelle des interkulturellen Dialogs im Musikbereich aber sind, neben einem interreligiösen Chorprojekt in Marktoberdorf, der Wettbewerb „Jugend musiziert“, der als einziges vor Ort wirksames Projekt vorgestellt wird und ein zukünftiger Wettbewerb.
„‚Jugend musiziert‘ fragt nicht, welche Jugend und welche Musik“, sagt Christian Höppner und stellt die türkische Baglama, eine Langhalslaute aus der Familie der Saz vor. Vor drei Jahren wurde sie als Wettbewerbsinstrument bei „Jugend musiziert“ eingeführt. Hier findet musikalischer Austausch vor Ort statt. Ein weiterer Wettbewerb wird angekündigt. Ein Weltmusikwettbewerb, der deutschlandweit ab 2006 starten soll. Wieder U-Bahn, wieder Berlin. Zuhause begrüßt mich meine dunkelgelockte äthiopische Nichte mit einem breiten Lächeln. Das kann ich von ihr lernen.
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