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Verbier möchte anders sein als Salzburg, Luzern oder Bayreuth. „Bei uns ist alles sehr unkonventionell, nicht wie in Luzern", erklärte Avi Shoshani, der künstlerische Direktor des Festivals. „Wir sind in der Lage, die Welt der Musik zu engagieren, denn alle sind unsere Freunde." Auf dieser Basis konnte der Israeli, sonst Generalsekretär des Israel Philharmonic Orchestra, zusammen mit dem schwedischen Festivalchef Martin Engstroem, sonst erfolgreicher Konzertagent, Künstler wie James Levine, Neville Marriner, Kent Nagano, Peter Ustinov, Evgeny Kissin, Vadim Repin, Leif Ove Andsnes, das Emerson Quartett, Ute Lemper oder Yuri Bashmet zu einem Bruchteil ihres üblichen Honorars für Verbier gewinnen. Das erst 1994 gegründete Festival, die interpretenbezogene Variante der stärker repertoireorientierten Freundeskreise von Montepulciano oder Lockenhaus, hat sich dank seiner schönen Berglage und zahlreicher Sportmöglichkeiten inzwischen als informeller Treffpunkt bekannter und aufsteigender Solisten etabliert.
Ein meist englisch- oder französischsprachiges Publikum profitierte auch in diesem Sommer von der Anwesenheit vieler interessanter Künstler. Martha Argerich und Yefim Bronfman sagten zwar kurzfristig ab, unter der Leitung von Sir Neville Marriner konnte man aber in einem Konzert Radu Lupu, Vadim Repin und Evgeny Kissin als Solisten erleben. Wo sonst geben die so gegensätzlichen Pianisten Leif Ove Andsnes und der vieldiskutierte Arcadi Volodos am gleichen Tag Recitals? Als eine Geigerin mit großer Zukunft erwies sich die zierliche Hilary Hahn, während die Cellistin Alisa Weilerstein und der Pianist Evgeny Sudbin die in sie gesetzten Hoffnungen noch nicht bestätigten.
Wie Aspen, Ravinia, Tanglewood oder das Schleswig-Holstein-Festival legt man in Verbier großen Wert auf den Nachwuchs. Zu den attraktiven Meisterklassen mit Ida Haendel und Igor Oistrach (Violine), Roberto Diaz und Paul Neubauer (Bratsche), Gary Hoffman und Franz Helmerson (Cello), Dmitri Bashkirov und Leon Flei-sher (Klavier), Gundula Janowitz und Brigitte Fassbaender (Gesang), Jonathan Miller (Oper) und Vicky Shicky (Tanz) wurde in diesem Jahr von den vielen Bewerbern nur eine einzige deutsche Teilnehmerin, die Sängerin Nadine Weissmann, ausgewählt. Lag dies an mangelnder Qualifikation der jungen Deutschen oder an mangelnder Publizität? Nicht nur wegen der hohen Qualität der für Zuhörer frei zugänglichen Kurse lohnte sich der Weg nach Verbier. Das mondäne Bergdorf im Wallis hat sich inzwischen auch als Musikerbörse etabliert, wo schon manche Schallplattenkarriere eingefädelt wurde.
Obwohl Engstroem immer wieder idealistisch von der „großen Familie" von Verbier spricht und obwohl die liebevoll aufgenommenen Solisten zu Freundschaftspreisen gastieren, ist auch dieses Festival ein Wirtschaftsunternehmen. Stolz berichtete man von einer ausgeglichenen Bilanz und der Zunahme des Kartenverkaufs um 30 Prozent. Die Zitterpartien der letzten Jahre sind offenbar vorbei. Man befindet sich auf Wachstumskurs. Nach der Ergänzung eines „Festivalinos" für Kinder, einer Konferenzreihe (unter anderem mit Frans de Ruiter, Peter Cossé, Norman Lebrecht und Brigitte Fassbaender) sowie eines Off-Festivals für Jazz und Pop plant man, das bisherige Festivalzelt durch ein festes Haus zu ersetzen. Das soeben in die Europäische Festival-Vereinigung aufgenommene Verbier wird damit fast doch ein „normales" Festspiel.
Mit Hilfe seiner Musikerfreunde und einer Gruppe von Sponsoren will sich Engstroem den Gesetzen des Marktes wenigstens teilweise entziehen. Die Alternative „Making money or making music", die Norman Lebrecht als düstere Zukunftsvision entworfen hatte, akzeptiert der Schwede nicht. Noch trägt das Verbier-Publikum nicht, wie Ute Lemper scharfzüngig einwarf, Rolex-Uhren und Gucci-Hirne zur Schau.
Aber auch hier gilt der am letzten Abend vorgetragene „Cabaret"-Song „Money makes the world go round". So mußte Engstroem offenbar der Forderung des zweiten Hauptsponsors nach mehr Publizität nachgeben. (Mehr Diskretion wahrt Nestlé als zweiter Hauptsponsor.) Nicht nur im ganzen Ort, auf dem Festivalzelt und auf den Eintrittskarten prangte nun das Firmenzeichen der schweizerischen Bankgesellschaft UBS, sondern – schlimmer noch – auch auf der Rückwand des Konzertpodiums. Der Konzertsaal blieb damit nicht mehr von der Außenwelt abgeschirmt. Es ist nur noch ein gradueller Unterschied, ob ein Orchester unter einem Stalin-Spruchband, unter dem Hakenkreuz oder unter einem Firmenzeichen musiziert. In allen drei Fällen wird die Musik in Dienst genommen, sie wird zur Dekoration. Daß das Banksymbol, drei gekreuzte Tresorschlüssel, größer war als die Notenschlüssel, zeigte die neuen Machtverhältnisse.
Dieser bedenkliche Schlingerkurs von fast faustischem Format wird sich im kommenden Jahr fortsetzen, wenn James Levine das neue „UBS Verbier Festival Youth Orchestra" aus der Taufe heben wird. Nach den bisherigen Gastspielen anderer Jugendorchester wie des Weltorchesters der Jeunesses Musicales (1996-97) hat Verbier damit erstmals einen „eigenen" Klangkörper. Ihn teilt das Festival aber mit dem Geldgeber, über den die „Berner Zeitung" berichtete: „UBS lanciert ihr eigenes Orchester". Tatsächlich hatte sich Engstroem bei der Namensgebung der Bank zu beugen. Wie beim Jeunesses-Orchester wird Jugend aus aller Welt angesprochen, die dann unter prominenten Dirigenten (Levine, Mehta, Temirkanov und Paavo Järvi) probt, auftritt und gastiert. Im Herbst 2000 soll auf einer Konzerttournee das UBS-Orchester den „Geist von Verbier" in die Städte Paris, Rom, Berlin, Madrid und Lissabon hineintragen. Zu diesem „Geist" gehört der Sponsor. George Gagnebin, UBS-Generaldirektor und Chaletbesitzer in Verbier, bezeichnete in der Pressekonferenz die Musiker als „echte Globalplayers und damit ein treffendes Symbol für die UBS". Hätte man den Bankier und seine wackeren Werbeberater nicht darauf hinweisen können, daß selbst in den USA Rockefeller- oder General Motors-Orchester als geschmacklos abgelehnt würden? Auch das Marlboro-Festival geht auf Rudolf Serkin und Adolf Busch zurück und nicht auf die Initiative einer Zigarettenfirma.