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Weder Lehrer, noch Chef: Beim „Kritischen Orchester“ will Dirigent Lothar  Zagrosek vor allem Gesprächspartner sein. Foto: nmzMedia
Weder Lehrer, noch Chef: Beim „Kritischen Orchester“ will Dirigent Lothar Zagrosek vor allem Gesprächspartner sein. Foto: nmzMedia
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Die Macht des Dirigenten ist auch nur ein Mandat

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Lothar Zagrosek im Gespräch über das „Kritische Orchester“ im Dirigentenforum des DMR
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Seit über zehn Jahren gibt es das „Kritische Orchester“ und seine „Werkstatt für interaktives Dirigieren“ in Berlin, seit diesem Jahr in Trägerschaft des Dirigentenforums des Deutschen Musikrats. Lothar Strauß, erster Konzertmeister des Orchesters der Berliner Staatsoper, ist der Künstlerische Leiter, Lothar Zagrosek, Vorsitzender des Künstlerischen Beirats des Dirigentenforums des Deutschen Musikrats, ist der Künstlerische Mentor (Dirigat) des „Kritischen Orches­ters“. Am 19. Juni findet in Berlin das Finale dieser „Werkstatt für interaktives Dirigieren“ statt. Achim Heidenreich traf Lothar Zagrosk in Frankfurt, wo er an der Oper drei Einakter von Ernst Krenek musikalisch einstudierte und leitete.

neue musikzeitung: Lieber Herr Zagrosek, was ist das „Kritische Orches­ter“?

Lothar Zagrosek: Das „Kritische Orchester“ gibt es als Hochschulveranstaltung schon länger. Neu daran ist aber jetzt, dass wir es in das Dirigentenforum des Deutschen Musikrats integrieren konnten. Dort bin ich Vorsitzender des künstlerischen Beirats. Als Teil unseres Ausbildungsprogramms im Dirigentenforum möchte ich das unbedingt beibehalten. Das ist in Berlin übrigens auch bei Musikern mittlerweile eine beliebte Institution geworden. Ich habe die Notwendigkeit für solch ein Format einmal mit einem Bonmot von Christoph von Dohnányi so ausgedrückt: Bei Dirigenten erlebt man sehr oft, dass alle über einen reden, aber keiner mit einem. Daraus ergibt sich fast schon die Dramaturgie dieser Geschichte, insofern als das Orchester mit den heranwachsenden Dirigenten zusammenarbeitet. Das Orches­ter kritisiert und hinterfragt die Intention und das tatsächliche Verhalten des Dirigenten und hilft ihm damit weiter. Es geht also nicht um das Abladen des typischen Orchestermusikerfrustes, sondern es geht darum, einen konstruktiven Beitrag zu leisten zur Ausbildung des Dirigenten.

Das ist ein interessanter und auch wichtiger Aspekt, dass man als Dirigent ein Feedback bekommt von seinen eigenen Musikern; dass man erfahren kann, warum bestimmte Dinge nicht so funktionieren, wie man sich das vorstellt. Das machen die Beteiligten in meiner bisherigen Wahrnehmung sehr, sehr gewissenhaft. Die Orchestermusiker machen das auf freiwilliger Basis, bekommen kein Honorar.

Es gibt einmal im Jahr ein Projekt von drei bis vier Tagen, für das zehn bis zwölf Dirigenten ausgesucht werden. Das Orchester selbst bildet dafür eine Jury. Und dann werden die ganz schön gegrillt, muss man schon sagen. Es ist aber auch nicht so schwer, sich das gefallen zu lassen, weil es aus einer ganz positiven Haltung heraus geschieht. Also nicht aus der Haltung des Musikers: Jetzt zeige ich es dem auch mal, sonst zeigt er es uns immer. Das finde ich sehr gut. Die Musiker achten untereinander darauf, dass sich keiner zum Besserwisser aufspielt oder irgendwie seinen persönlichen Musikfrust ablädt. Meine Funktion dabei ist, dass ich den Dirigenten als Mentor zur Verfügung stehe, falls sie nicht weiter wissen.

nmz: Seit wann gehört das „Kritische Orchester“ zum Dirigentenforum?

Zagrosek: Das „Kritische Orchester“gibt es schon seit über zehn Jahren an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ Berlin. Es brauchte jetzt eine neue finanzielle Basis und Trägerschaft. Als sie bei uns anfragten, haben wir sofort zugegriffen, weil es ideal in das Dirigentenforum passt. Die Absprache ist, dass sich das „Kritische Orchester“ als autonomer Verein selbst verwaltet und sich auch die Jury aus dem Orchester selbst bildet. Wir benennen aus dem Dirigentenforum zwar auch Kandidaten, damit unsere Trägerschaft gegenüber dem Deutschen Musikrat sichtbar ist, alle anderen Kandidaten bestimmt die Jury des „Kritischen Orchesters“ selbst.

Geballter Sachverstand

nmz: Aus welchen Musikern setzt sich das Orchester zusammen?

Zagrosek: Es gibt ein Büro mit einer Liste von bisherigen und potenziellen Musikern. Die werden rechtzeitig informiert. Sie kommen teilweise aus Stuttgart, Köln, von der Dresdner Staatskapelle. Die meisten kommen natürlich aus Berlin und dem Berliner Umfeld. Der größere Teil sind Musiker, die frisch pensioniert sind und die es schön und angenehm finden, da mitzumachen. Das sind wirklich tolle Leute. Die vorderen Pulte sind meistens ehemalige erste Konzertmeister der Berliner Philharmoniker oder der Dresdener Staatskapelle kurz nach dem Erreichen der Pension. Da kommt sehr viel Sachverstand zusammen. Es ist sehr interessant zu sehen, was die den jungen Dirigenten mitgeben können. Auch für mich, der ich dabei sitze, ist das oft sehr erhellend.

nmz: Könnten Sie ein Beispiel nennen oder könnten Sie sagen, was der junge Dirigent, die junge Dirigentin noch anders macht, als es das Orchester braucht?

Zagrosek: Ja, das Orchester, der Musiker spürt beim jungen Dirigenten sofort, ob er eine zu Hause auswendig gelernte Situation in die momentane Probensituation hineinträgt und sagt, das und das müsste jetzt korrigiert werden – ohne jeden Bezug zu dem, was tatsächlich passiert ist. Dann wird natürlich eingehakt. Der Musiker fragt dann: Bitte erklären Sie uns das? Was wollen Sie von uns jetzt eigentlich haben und was haben Sie gehört, was im Widerspruch zu dem ist, was Sie eigentlich hören wollten? Der Dirigent wird dadurch herausgefordert, Stellung zu beziehen und vielleicht auch seine eigene, hergebrachte Klangvorstellung aufzubrechen und sich daran zu orientieren: Was höre ich eigentlich wirklich? Es ist doch für einen Dirigenten sehr wichtig, dass er seine ganze Arbeit darauf konzentriert, seine eigene Klangvorstellung zu vermitteln und zu realisieren. Es geht aber nur, wenn er einen tatsächlichen Realitätsbezug hat zu dem, was wirklich passiert und nicht eine abstrakte Vorstellung mitbringt und sagt: Das habe ich jetzt gehört. Unabhängig davon, ob das jetzt stattgefunden hat oder nicht.

nmz: Wie schätzen Sie die Situation des Dirigentennachwuchses ein?

Zagrosek: Es ist erstaunlich, dass in den letzten fünf oder sechs Jahren einige der jungen Dirigenten wirklich bilderbuchhafte Karrieren hingelegt haben, so ist zum Beispiel die neue Chefdirigentin des City of Birmingham Symphony Orchestra, die Estin Mirga Gražinyte-Tyla, Teilnehmerin des Dirigentenforums gewesen. Unter den jungen Dirigenten gibt es mittlerweile mehrere solche Schwergewichte, etwa auch Cornelius Meister, der 2018 das Staatsorchester Stuttgart übernehmen wird. Er ist Jahrgang 1980 und wurde ebenfalls vom Dirigentenforum weiter qualifiziert. Woran es vielleicht in der Vergangenheit etwas gehapert hat, war den Dirigenten einen Weg zu zeigen, wie sie ihren Karriereweg beschreiten können. Es genügt ja nicht, gut zu dirigieren, sondern man muss auch wissen, wie man das in die Fachwelt vermittelt, die dann die weiteren Schritte verfolgt. Das scheint jetzt etwa über internationale Agenturen besser in Gang gekommen zu sein. Das ist auffällig. Das „Kritische Orchester“ ist mittlerweile eine Berliner Institution und wird von den Medien sehr gut mitverfolgt. Wer sich dort also durchsetzt und im Finale das Schlusskonzert dirigiert, kann mit einer gewissen interessierten breiten Öffentlichkeit rechnen. Das ist dann ein weiterer Baustein, um die Karriere weiter aufzubauen. Das ist mir für das Dirigentenforum wichtig.

nmz: Wer kann sich für das „Kritische Orchester“ anmelden?

Zagrosek: Grundsätzlich kann sich jeder „werdende Dirigent“, wie es heißt, gegen Ende seiner dirigentischen Ausbildung, beziehungsweise zu Beginn seiner Berufslaufbahn anmelden. Das Reglement ist da ziemlich frei formuliert, aber die Konkurrenz ist groß. Es sind sehr qualifizierte Leute dabei.

nmz: Auch Bewerber, die in ihren Heimatländern schon Positionen innehaben, sich jetzt aber einmal im gelobten Orchesterland Deutschland dem Wettbewerb stellen wollen?

Zagrosek: Das kommt durchaus vor. Es ist aber sehr unterschiedlich. Jedes Jahr ist anders.

nmz: Was wäre aus Ihrer Sicht ein idealer Dirigent?

Zagrosek: Der ideale Dirigent ist eigentlich der, der es schafft, sich ganz authentisch durch sein Metier zu bewegen. Der auch nicht allzu viel nach links oder nach rechts schaut, sondern nach innen. Und das, was er da sieht, versucht authentisch den Musikern mitzuteilen. Jemand, der sich ein Leben lang selbst instrumentalisieren muss, der macht es sicher nicht richtig. Man muss wirklich mit sich selbst so ins Reine kommen, was das Dirigieren betrifft, dass man sagen kann, auch wenn alle es anders machen, so wie ich es mache, so will ich das und dahinter stehe ich. Das ist meine authentische Interpretation. Nur dann ist man glaubwürdig. Das überträgt sich auf die Musiker – und natürlich auf das Publikum. Beim Sänger, beim Instrumentalisten ist es doch genauso. Wenn man nicht ganz darin ist, geht es daneben.

In die Tiefe eindringen

nmz: Gibt es Werke, von denen Sie sagen würden, dafür braucht es eine gewisse Reife, bevor man sie angeht?

Zagrosek: Ich glaube, jede Interpretation hat ihre Zeit. Wenn man als Dirigent seine ersten Schritte macht, hat man einen anderen Blick darauf, als wenn ich sie im fortgeschrittenen Alter mache. Alle wichtigen Werke der Musikliteratur erschließen sich einem immer mehr, je öfter man sie macht. Man dringt immer mehr in die Tiefe ein, erreicht immer größere Souveränität und kennt immer mehr auch die musikalische Philosophie der Werke. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man sich Mahlers Neunte in jungen Jahren total erschließen kann, aber man kann sie dann schon dirigieren. Ein sehr gutes Orchester spielt es auch sehr schön, wenn man es gut technisch dirigieren kann. Es gibt natürlich Dirigenten, wie etwa Zubin Mehta, der mit 24 Jahren das alles schon hatte. Das ist aber eher die Ausnahme.

nmz: Was ist die Grundbegabung zum Dirigieren? Wie stellt man an sich selbst fest, dass es der zukünftige Weg sein wird?

Zagrosek: Ich glaube erstens, dass man für sich selbst die musikalische Begabung nachweisen muss. Ganz klar. Darüber hinaus aber muss man davon so überzeugt sein, wie wenn man heira­­tet. Dann sagt man auch: Die ist es jetzt und niemand sonst, das ganze Leben! So auch beim Dirigieren: Das halte ich fest, das ist mein Beruf, da rüttele ich nie daran und ich will es bis zu meinem Lebensende ausüben! Und weiterhin muss man sagen: Wir schaffen das! Der Merkel’sche Satz. (lacht) Man muss total dahinter stehen!

nmz: Was halten sie von dem Trend vom Instrument aus oder als Sängerin oder Sänger gleichzeitig ein Orchester zu dirigieren oder das im Lehrplan einer Musikhochschule professural zu verankern?

Zagrosek: Das war ja früher die Praxis. Aber ich glaube, sehr weit kommt man da nicht als Dirigent. Ich glaube, dass man nur als Dirigent das gesamt musikalische Universum ausschreiten kann – nicht als Sänger, nicht als Ins­trumentalist. Da hat man immer nur einen Ausschnitt. Aber als Dirigent hat man – eben – alles zur Verfügung. Das ist schon eine gewisse Herausforderung, aber auch eine unglaubliche Befriedigung, wenn man soweit ist, dass man es machen kann.

Machtaspekte

nmz: Weil man näher am Klang ist?

Zagrosek: Da kommt etwas hinein, was eigentlich keine Rolle spielen dürfte. Der Machtaspekt. Plötzlich bekommt man Macht über andere, die auch ausgebildete Künstler sind. Das ist eine legitime Macht, natürlich, weil es einen braucht, der das Ganze koordiniert. Wobei man eben viel weiterkommen muss, als  nur zu koordinieren. Da wird der Beruf zur künstlerischen Herausforderung, dass man in der Lage ist, mit den Musikern zusammen ein Ergebnis zu erzielen, das mehr ist als die Summe von 100 Musikern. Das mit der Macht ist heikel, sicher eine Verlockung und ich könnte mir vorstellen, dass der Berufswunsch, Dirigent zu werden, auch damit zusammenhängt, dass die Macht reizt. Macht ist aber auch nur ein Mandat und bedeutet nichts anderes, als Verantwortung zu übernehmen. 

nmz: Es wird regelmäßig über nationale Klangspezifika diskutiert. Gibt es einen skandinavischen Klang, gibt es einen deutschen Klang, einen amerikanischen? Sie arbeiten international, haben in Frankreich und Österreich Orchestern vorgestanden und sie jahrelang geleitet. Die Orchester selbst sind international besetzt. Wie stehen Sie zu der Frage?

Zagrosek: Ich glaube, es trifft zu, dass heute in einem Orchester 15 bis 20 Nationen vor dem Dirigenten sitzen. Es gibt aber dazu auch durchaus einen eigenen Ton, wie zum Beispiel beim Pariser Opernorchester. Dort spielen traditionellerweise die besten Absolventen des Pariser Conservatoire. Das heißt, seit Generationen wird in das Orchester weitergegeben, was im Conservatoire gelehrt wird. Das erzeugt eine gewisse intonatorische Einheitlichkeit, ein leichter, sehr virtuoser Orchesterklang entsteht. Das gleiche gilt für die Wiener Philharmoniker. Der Geigenlehrer Samuel in Wien hat fast alle Geiger der Philharmoniker ausgebildet. In Wien antwortete man lange auf die Frage: Wo geht es zu den Wiener Philharmonikern?: über Professor Samuel, denn der hatte fast alle Streicher der Philharmoniker ausgebildet. Da wird natürlich eine Klangvorstellung in reinster Form weitergegeben, die den Charakter eines Orchesters prägen. Es gibt aber, wie ich finde, keinen Nationalklang. Höchstens unterschiedliche nationale Haltungen in Bereichen wie etwa Disziplin, Genauigkeit, Zusammenspiel. Das erzeugt unterschiedliche Ergebnisse. Letztlich prägen die Dirigenten die Orchester und tragen dazu bei, dass das Orches­ter einen Individualklang bekommt.

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