Vor gar nicht so langer Zeit waren Frauen am Pult klassischer Orchester noch kritisch beäugte Exoten. Doch die Männerdomäne der «Pult-Matadore» ist ins Wanken geraten. Heute gibt es ein breites Feld von Frauen in mehr oder weniger herausgehobenen Positionen des Musiklebens.
München- Als die Mexikanerin Alondra de la Parra im Januar ihr Debüt bei der renommierten Salzburger Mozartwoche gab, waren Kritiker voll des Lobs. Die «Süddeutsche Zeitung» pries die «charismatische Dirigentin» und wollte wissen, dass sie bald als neuer Star bei einem deutschen Plattenlabel unter Vertrag stehen werde. Die 38-Jährige mit der impulsiven Schlagtechnik, die zur Zeit das Queensland Symphony Orchestra im australischen Brisbane leitet, steht für eine Generation jüngerer, ehrgeiziger Frauen, die sich anschicken, die Dirigenten-Pulte der Welt zu erobern.
Vor einem Jahrzehnt noch waren Dirigentinnen rar und die Australierin Simone Young, die zuletzt als Generalmusikdirektorin (GMD) an der Hamburgischen Staatsoper arbeitete, als Repräsentantin ihres Geschlechts in der Klassikwelt fast allein auf weiter Flur. Unterdessen gibt es ein breites Feld von Frauen in mehr oder weniger herausgehobenen Positionen des Musiklebens. Eine der letzten Männerdomänen gerät ins Wanken.
«Kann eine Frau Wagner? Ist das nicht zu anstrengend?» Diese Frage musste sich auch Joana Mallwitz anhören. Natürlich kann eine Frau Wagner! Am Königlichen Opernhaus Kopenhagen dirigierte sie Wagners «Holländer», an der lettischen Nationaloper in Riga «Rheingold» und «Götterdämmerung». In Erfurt, wo sie als europaweit jüngste Generalmusikdirektorin wirkte, dann die «Meistersinger von Nürnberg». Heute ist Mallwitz GMD am Staatstheater in Nürnberg und hat zuletzt mit Sergej Prokofjews monumentalem Operndrama «Krieg und Frieden» ihr Publikum in den Bann gezogen.
Auch das Wuppertaler Sinfonieorchester, das zugleich die dortige Oper bespielt, wird zur Zeit von einer Frau geleitet, der Britin Julia Jones, während die Polin Ewa Strusinska an der Neuen Lausitzer Philharmonie und dem Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz unter Vertrag ist. In der Oper im steirischen Graz war bis vor kurzem die Ukrainerin Oksana Lyniv tätig, eine Schülerin von Kirill Petrenko, GMD an der Bayerischen Staatsoper und künftiger Chef der Berliner Philharmoniker. Jetzt will sich Lyniv als freie Dirigentin behaupten. Von der Frau, sind sich Kenner sicher, wird man noch hören.
Wie von der US-Amerikanerin Marin Alsop, die im September ihren neuen Posten als Chefdirigentin des ORF Radio-Symphonieorchesters in Wien antritt. Nicht zu vergessen die US-Amerikanerin Karina Canellakis als künftige Chefdirigentin des Radio Filharmonisch Orkest (RFO) im niederländischen Hilversum sowie die Litauerin Mirga Grazinyte-Tyla, die als Nachfolgerin von Pultstar Andris Nelsons das Birmingham Symphony Orchestra leitet, das für Sir Simon Rattle das Sprungbrett zu den Berliner Philharmonikern war. Last but not least: GMD an der Staatsoper Hannover war bis Ende der Spielzeit 2015/16 die US-Amerikanerin Karen Kamensek. Auch sie arbeitet jetzt erfolgreich als freie Dirigentin.
In den letzten zehn, zwanzig Jahren habe sich vor allem in den Köpfen vieles verändert, sagt Joana Mallwitz. Ein Grund dafür sei der Siegeszug der Alten Musik mit weniger hierarchisch organisierten Ensembles, in denen nicht mehr die klassischen Kapellmeister den Ton angeben, sondern Quereinsteiger wie der 2016 verstorbene Nikolaus Harnoncourt. Der begann als einfacher Cellist bei den Wiener Symphonikern, ehe er seinen Concentus Musicus Wien gründete und später als hoch geschätzter Dirigent Dauergast bei den Wiener Philharmoniker und den Salzburger Festspielen wurde.
«Mittlerweile könnten es eben auch Frauen schaffen», sagt Mallwitz, die selbst die Kapellmeister-«Ochsentour» von Solo-Korepetition und Nachdirigaten bis zur GMD absolviert hat. Dass sich etwas bewegt, sieht man an der wachsenden Zahl von Frauen in den Dirigierklassen der Musikhochschulen. Im Wintersemester 2016/2017 waren gut 42 Prozent der Studierenden, die Dirigieren als erstes, zweites oder drittes Studienfach belegt hatte, Frauen. Zehn Jahre zuvor waren es erst 27 Prozent. Allen Fortschritten zum Trotz: Der Anteil von Frauen an der Spitze der 130 Berufsorchester in Deutschland ist immer noch verschwindend gering.
Mittlerweile geraten die Chefs großer Musikinstitutionen wie der Salzburger Festspiele in Erklärungsnot, wenn sie Gründe für die geringe Repräsentation von Frauen am Dirigentenpult nennen sollen. Es werde auch in Salzburg Dirigentinnen in hervorgehobenen Positionen geben, antwortete Festspielintendant Markus Hinterhäuser auf eine entsprechende Frage. «Ich muss nur das Gefühl haben, eine ideale künstlerische Konstellation gefunden zu haben. Das ist nichts Geschlechtspezifisches.»
Die Zeit der «aktiven Unterdrückung von Frauen in schöpferischen Berufen», wie es Niko Kerber vom Archiv Frau und Musik in Frankfurt am Main formuliert, scheint zu Ende zu gehen. Das bekommen auch Pult-Matadore älteren Schlags wie Mariss Jansons (76) zu spüren. Als sich der Chef des Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks im Herbst 2017 etwas salopp über Frauen am Dirigentenpult geäußert hatte («Not my cup of tea»), musste er sich dafür öffentlich entschuldigen. Er habe aufgrund seines vorgerückten Alters nur zum Ausdruck bringen wollen, dass «für mich Frauen am Dirigentenpult - noch - ungewohnt sind». Ihm wurde verziehen.
Bis eine Frau das legendäre Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker leiten wird, dürfte wohl noch ziemlich viel Wasser die blaue Donau hinabfließen. Doch zumindest an der Wiener Staatsoper ist der Bann schon gebrochen. Dort hat die Italienerin Speranza Scappucci 2017 als Einspringerin für den damals erkranken Semjon Bytschkow den Wiener Opernball eröffnet.