Wohl kaum ein Terminus der Neuen Musik dürfte in den letzten Jahrzehnten eine so tiefgreifende ästhetische Umwertung erfahren haben wie der des Materials. Für viele Anhänger der Nachkriegsavantgarde galt allein das durch die unbeschränkte Herrschaft über das Material charakterisierte Artefakt als echte zeitgenössische Musik.
Ihr konstruktivistischer Impetus stand für die Partizipation am gesamtgesellschaftlichen Fortschritt. Inzwischen hat sich die öffentliche Einschätzung von Technik und Fortschritt nicht zuletzt unter dem Eindruck der Umweltkrise grundlegend gewandelt. Die Annahme, technische Innovation sei gleichbedeutend mit gesellschaftlicher Weiterentwicklung, ist verbreitetem Misstrauen gewichen. Das blieb nicht ohne Folgen für die zeitgenössische Musik und ihr Verständnis von Materialität. Die technische Komplexität der Materialbeherrschung amtiert nicht länger per se als musikalisches Gütekriterium; viele Komponisten sinnen heute auf eine Präsentation von Materialität als solcher.
Was das für die Tonkunst konkret bedeuten kann, ließ sich vom 13. bis 16. August auf dem Musik 21 Festival in Hannover erforschen. An 20 verschiedenen Orten wurden in einer gut ausbalancierten Mischung aus Veranstaltungen im überkommenen Konzertformat und einer Vielzahl von musikalischen Ereignissen im Freien neue Schöpfungen präsentiert und dem draußen mitunter rein zufällig anwesenden Publikum auf nonchalante Weise nahegebracht. So unterschiedlich die künstlerischen Temperamente und Profile der beteiligten Musiker auch veranlagt sind, als gemeinsames Bestreben schälte sich die Suche nach neuer Unmittelbarkeit, nach einem fast partnerschaftlichen Dialog von Kunst und Natur heraus. Die Assoziationen von Buntheit und Fülle, die das Festivalmotto „Farben“ anfangs erweckte, wurden beim Eröffnungskonzert im nostalgischen Ambiente des kleinen Sendesaals des NDR Funkhauses Hannover besonders durch Johannes Schöllhorns „rota“ für Kontrabassklarinette und Streichquartett beflügelt. Eine bei aller Dezenz funkelnde und blitzende, dem höheren Schabernack nicht abgeneigte Musik, vom Nomos Quartett und Udo Grimm in feingliedrig-delikater Pianokultur lustvoll zelebriert. Motivik und Formverläufe sprühen vor kompositorischer Virtuosität, noch jede kleinste Note ist mit artistischem Raffinement dem Ganzen als Farbnuance eingeschrieben – und doch wirkt diese präzise durchkonstruierte Musik in ihrer spontan quellenden Vitalität wie ein Stück Natur.
Natur! Sie war der geheime Mittelpunkt, die Sehnsuchtschiffre dieses Festivals – aber wie unterschiedlich sind die Wege, die zu ihr führen. In „Lichtwechsel“ für Flöte, Glasharmonika und Steeldrums aus dem „Farben“-Zyklus von Caspar Johannes Walter erscheint sie als extensiv ausgebreitetes Material isolierter musikalischer Ideen, die quasi in ihrer reinen Naturhaftigkeit heraustreten. Mit schlanker Grazie erweckt sie das Ensemble „L’art pour L’art“ zu einer spannungsvoll kontemplativen Flächigkeit, an der sich die allenthalben durch rastlose Informationsverarbeitung und Datenbeschaffung verkümmerte Hörwahrnehmung laben kann. Im Gegensatz dazu arbeitet sich „zonder titel“ für Bariton und Sextett von Gijsbrecht Royé, ein Auftragswerk von Musik 21, erneut an der Dialektik von kompositorischem Formwillen und elementarer Klangerfahrung ab, wenn auch mit weitaus konventionelleren Mitteln als Schöllhorns repertoireverdächtiges Eingangsstück. Stephan Meier und das Neue Ensemble sicherten dem Werk gleichwohl eine straff und impulsiv musizierte Wiedergabe mit kontraststarken dynamischen Abstufungen. Kurze, gefällige vokale Kabinettstückchen hielten die vier Chorsätze für Frauenchor „Sempre Straniero“ bereit, die Marcus Aydintan für das Festival komponiert hat. Der Mädchenchor Hannover unter der Leitung von Gudrun Schröfel verlieh den feinziselierten Miszellen Stimmungsdichte und imaginativen Ausdruck.
Weitaus risikofreudiger und damit natürlich auch anfechtbarer als die Aufführungen im geschützten Saal erwiesen sich die Stationenkonzerte in der Park- und Gartenlandschaft der niedersächsischen Landeshauptstadt. Auf eine Erweiterung des Materialbegriffes zielt die Uraufführung von Stephan Meiers „Berggartenmusik“ für acht Bläser, vier Schlagzeuger und elektronische Klangprojektion – allesamt über das Wiesengelände des Gartens verteilt. Aus sparsam intonierten Motivstümpfen erwächst allmählich eine die Gattungsgrenzen sprengende Raum-Klang-Magie, indem die durch den Garten lustwandelnden Passanten in das Geschehen hineingezogen werden, plötzlich wie spontan visualisierte klangliche Bewegungselemente wirken und sich somit buchstäblich im Vorübergehen zu einem „Material“ der Komposition verwandeln, das erst während der Aufführung entsteht. Der alte Topos, dass das Kunstschöne die Nachahmung des Naturschönen sei, bekommt hier eine ganz unerwartete Wendung. Kunst verliert, so wie es einst John Cage vorschwebte – und dessen „Branches“ und „Sculptures musicales“ dann auch unmittelbar folgten – den Charakter absichtsvollen Handelns und wird selbst zu Natur im Sinne eines frei sich entfaltenden Prozesses.
Eher zurückhaltend fiel die Rezeption bei einigen der Klanginstallationen im Großen Garten aus, wobei es dem umherirrenden Publikum seitens der Organisatoren auch nicht immer leicht gemacht wurde, die Aufführungsstätten überhaupt zu finden. Ob es heute allerdings noch genügt, einen Stromverteiler mit Lautsprechern aufzustellen, aus denen dann zum Beispiel akustische Schnipsel einer Polittragödie oder technisch verzerrte Fragmente alter Musik auf die Umgebung herabrieseln, sei dahingestellt. In Hannover gewinnt dieses „Match“ von Natur und Kunst, noch dazu an einem so schönen Sommertag, die Natur. Zu einem harmlosen audiovisuellen Design gerieten auch die als Zwiesprache von Musik und Film konzipierten „Moving Colours“ im Biergarten der Uni, während Luigi Nonos „... sofferte onde serene ...“ in der extrem expressiven Interpretation durch den Pianisten Sebastian Berweck zahlreiche Zuhörer zum Leibniztempel des Georgengartens lockte. Vorausgegangen war hier mit „splitting 28.1“ von Michael Maierhof die Erkundung eines neuen Instruments, etwas vollmundig als „Hybrid aus Streichinstrument und Klavier“ angekündigt. Dabei handelte es sich um die im Resonanzraum eines Flügels befestigten Gitarrensaiten, denen Berweck mit großem Körpereinsatz geheimnisvoll unwirkliche Klänge abrang.
Bei aller Kritik am Detail ist es in Hannover wie andernorts in Niedersachsen gelungen, die Neue Musik für eine kürzere oder auch längere Zeitspanne zu einem fast alltäglichen Lebensphänomen der Menschen zu machen. Mit einer Fülle von Konzertzyklen strahlt das Netzwerk Musik 21 seine Energie in das weite Flächenland ab. Einer der diesjährigen Höhepunkte war die von einem hochkarätigen Symposion zum Thema „Unerhörtes Leben!? Musikerfindung in Beziehung zur Welt“ umrahmte Uraufführung von Werken der Kompositionsklasse Winsen. Das Besondere an dieser seit zehn Jahren bestehenden Einrichtung ist nicht allein, dass sie für Kinder und Jugendliche geschaffen worden ist, sondern dass die jungen Menschen an diesem Ort wirklich ernst genommen und nicht zum Objekt erziehungswissenschaftlicher Experimente gemacht werden. Beobachtet man Astrid Schmeling vom Ensemble „L’art pour L’art“ während der Konzertvorbereitungen mit den jungen Komponistinnen und Komponisten, so erscheint jegliche pädagogische Differenz aufgehoben. Das Erfinden und Realisieren von Musik wird zur konkreten, gelebten Utopie authentischer menschlicher Gemeinsamkeit. Wenn hier jemand erzogen wird, so allenfalls die Eltern der 9- bis 13-Jährigen, die vielleicht aus Neugierde, vielleicht aus Stolz in das Circus-S-Zelt zur Jubiläumsfeier strömen und dann nicht weniger als das gesamte Spektrum zeitgenössischer Musik durch die Kompositionen ihrer Kinder dargeboten bekommen.
Es fällt schwer, aus den mal bissig-ironisch daherkommenden, mal traumwandlerisch elegisch eingefärbten Beiträgen Einzelnes herauszugreifen. Durch Esprit, Erfindungsreichtum, aber auch durch die Fähigkeit zur konzisen künstlerischen Aussage überzeugen sie alle. Um den Pluralismus der Stile und Musikbegriffe zu illustrieren, seien zwei besonders stark kontrastierende Beispiele ins Feld geführt. Kikan E. Nelles „Hellblau in Farbe“ für Altflöte, Klarinette, Violine und Violoncello ergeht sich bei elaborierter Satztechnik in melancholisch überhauchten, pointillistischen Klanggebärden. Mahnaz Shahriyari hingegen verwendet in „FEV“, das bedeutet „Für Erwachsene verboten“, Kuhglocken, die aber nicht geschlagen, sondern gerieben werden, sowie Murmeln, Sonne und Mond. Mit ihnen arrangiert sie eine zeremonielle Sequenz von ungewöhnlichen Geräuschklängen – darin eingelassen provozierende Momente des Stillstands: ein Spiel à la Cage mit den immer wieder gefoppten Erwartungen der Zuhörer. – Mit dieser Kompositionsklasse hat sich Winsen einen besonders dicken Eintrag auf der musikalischen Landkarte Deutschlands errungen. Auf weitere neue Einträge durch das Netzwerk Musik 21 darf man gespannt sein.