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Die schönste Vorstadt von Berlin

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Ein Streifzug durch Potsdams abwechslungsreiches Musikleben
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„Das ganze Eyland muss ein Paradies werden“, forderte der Statthalter des Großen Kurfürsten anno 1664 in Kleve, als das Gespräch auf Potsdam kam. Friedrich der Große und seine Nachfolger verwirklichten in Stadt und Umgebung diesen Traum, begründeten den kulturellen Ruf und Ruhm der zweiten Residenz der preußischen Herrscher. In praxi war sie oftmals sogar die erste. Dennoch wurde die havelländische Idylle bereits um 1800 von Jean Paul als „die schönste Vorstadt von Berlin“ bezeichnet. Das ist sie bis zum heutigen Tag geblieben. Ein Appendix-Trauma, unter dem sie noch immer leidet.

Dabei kann gerade ihr eng miteiander verzahntes Musikleben mit eigenständiger und durch aus konkurrenzfähiger Vielfalt aufwarten. Es findet vorwiegend in prächtigen architektonischen und akustisch vorzüglichen Innenräumen statt. Zu großen Teilen wurden sie vom königlichen Flötenspieler von Sanssouci (Schlosstheater im Neuen Palais) oder dem cellostreichenden Friedrich Wilhelm II. (Palmensaal der Orangerie Neuer Garten) geschaffen. Doch auch Außenanlagen wie die Römischen Bäder und der Säulenhof der Orangerie Sanssouci – gleich anderen Lustschlössern eingebettet in die von Peter Lenné erschaffene Potsdamer Parklandschaft – sind längst zu musikalischen Lustbarkeitsorten geworden.

Zu ihnen gesellt sich seit Ende August diesen Jahres der von dem französischen Architekten Rudy Ricciotti für 30 Millionen Mark um- und neugebaute Nikolaisaal als Konzert- und Veranstaltungshaus, in dem fortan das musikalische Herz Potsdams in seiner historischen Mitte schlägt. Die Spuren seiner Vergangenheit sind sichtbar geblieben, die Architektur aus dem Geist der Musik geboren. Des Saales computerberechnete Akustik verheißt Verwöhnklänge der zartesten Versuchungen.

Geplant und gebaut wurde der Nikolaisaal für die Brandenburgische Philharmonie Potsdam (BPP). Bis zum Ende der vergangenen Spielzeit gehörte sie zu den wichtigsten kulturellen Institutionen der Stadt. Finanzielle Engpässe sowie kulturpolitische Querelen führten trotz massiver Proteste und Bürgerbegehren sowie einer ins Auge gefassten, eifrig betriebenen und dann ad acta gelegten Fusion mit dem Staatsorchester Frankfurt (Oder) zu deren Abwicklung. Ein neues Hausorchester für den Nikolaisaal sollte aus Potsdamer Musikern geschaffen werden. Verschiedene Kandidaten bewarben sich. Den Zuschlag erhielt kürzlich die Kammerakademie Potsdam, eine Verbindung aus dem renommierten Ensemble Oriol Berlin und dem neunköpfigen Persius-Ensemble Potsdam. Letzteres bereichert das hiesige Musikleben mit der Reihe „Musik und Architektur“ an dafür passenden Orten. Spielfähig soll das Kammerorchester, das zwar den Auftrag, aber noch keinen Vertrag in der Tasche hat, ab der Spielzeit 2001/2002 sein.

Bis dahin wird die sinfonische „Grundversorgung“ vom Staatsorchester gesichert, das seine Frankfurter Produktionen je zwei Mal im Nikolaisaal spielt. Der Zuspruch des Potsdamer Publikums hält sich bislang noch in Grenzen. Ganz anders beim Besuch der „Potsdamer Konzerte“. Seit kurzem liegt ihr programmatischer Schwerpunkt auf Crossover-Projekten. Sie reichen vom ungewöhnlichen Klassik-Mix (Brandenburger Symphoniker) über traditionsreiche Filmlivekonzerte (Deutsches Filmorchester Babelsberg) bis hin zu Jazz-Adaptionen.

Deren Interpreten finden auch im Babelsberger „Lindenpark“, einem ehemaligen staatlichen Klub- und Kulturhaus, seit 1990 ihre erste Adresse. Dort kann sich mit Heavy Metal, True Rock oder HipHop lautstark austoben, was den Nerv der Jugendlichen trifft. Ihre harte Gangart haben viele Bandmitglieder in der für Popularmusik zuständigen Babelsberger Zweigstelle der Musikschule „Johann Sebastian Bach“ erlernt. Schwerpunkt ihrer eigentlichen Arbeit bildet das Gemeinschaftsmusizieren vom Duo bis zur BigBand und zum Jugendsinfonieorchester. Dieses, wie auch der gemischte Chor und der große Kinderchor, erhält nun im Nikolaisaal neue Auftrittsmöglichkeiten. Öffentliche Aufmerksamkeit finden die Eleven auch mit ihrer monatlichen Reihe „Potsdamer Podium“ und der Einladung an gestandene Künstler „Zu Gast bei uns“. Einmal im Jahr musizierten die Besten der Musikschüler mit der BPP.

„Ob bei der Kammerakademie ein Interesse an der Fortführung dieser Tradition besteht, wage ich zu bezweifeln“, gibt sich Direktor Prof. Wolfgang Thiel wenig optimistisch. Auch er gehört mit Gerhard Rosenfeld, Gisbert Näther, Bernhard Opitz und Karl-Ernst Sasse zu den ortsansässigen Komponisten, deren Werke häufig bei den Konzerten des Vereins musikalisch-literarischer Soireen im Alten Rathaus e.V. erklingen.

Einen guten Klang in Potsdam haben auch die Musikfestspiele Potsdam Sanssouci, deren GmbH auch als Betreibergesellschaft für den Nikolaisaal fungiert. Bis zur Wendezeit als Parkfestspiele veranstaltet und in die Potsdamer Musikgeschichte eingegangen, widmen sie sich nun jeweils einem speziellen Thema aus der preußisch-brandenburgischen Geschichte. In diesem Jahr war es die „beziehungBach“, im kommenden steht im Rahmen der Bundesgartenaustellung die Musik im Spannungsfeld von Natur und Garten.

Wie gehabt, werden drei Wochen lang im Juni Werke alter und neuer Meister erklingen. Darunter erneut Opernausgrabungen (in diesem Jahr war es „Alessandro nell’Indie“ von Johann Christian Bach) aus dem barocken bis frühklassischen Bereich, der Spezialstrecke des Musiktheaterangebots, dem sich auch das Hans-Otto- Theater widmet. Da bis zum Juni 2001 das Schlosstheater renoviert wird, hofft man auf eine musikdramatische Oratorienaufführung in einer der Potsdamer Kirchen. Deren Musikangebote tragen ganz erheblich zum abwechslungsreichen Musikleben bei. In den Sommermonaten eines jeden Jahres ist es der über die Stadtgrenzen hinaus bekannte „Internationale Orgelsommer“ mit seinen zwölf Konzerten namhafter Solisten (u.a. Matthias Eisenberg, Kilian Nauhaus), die wechselweise in der Friedens- und der Erlöserkirche stattfinden.

Da die Potsdamer seit jeher gern singen, haben sie sich in zahlreichen Chören zusammengeschlossen. An der Friedenskirche (am Park von Sanssouci gelegen) sind es Oratorienchor, Kantorei und Vocalkreis, allesamt geleitet von KMD Matthias Jacob. Die Kantorei an der Erlöserkirche (über vierzig Jahre lang von Prof. Friedrich Meinel geprägt), der Chor von St. Nikolai (Björn O. Wiede), die Kantorei der Pfingstkirche (Matthias Trommer) sowie viele Singgemeinschaften kleinerer Gemeinden in und um Potsdam pflegen das entsprechende Repertoire von Bach bis Rosenfeld. Zu den ältesten Vereinen der Stadt gehört der 1848 gegründete Potsdamer Männerchor, der wie die Singakademie Potsdam (Horst Müller) im neuen Nikolaisaal seine Heimstätte erhalten hat. Doch durch welches Orchester werden sie an Stelle der abgewickelten Brandenburgischen Philharmonie künftig Begleithilfe erfahren?

Ein reiches musisches Betätigungsfeld finden die Studiosi im Universitätschor und -orchester („Sinfonietta Potsdam“). In diesem Ensemble spielte auch Knut Andreas mit, der seit 1999 die Liebhabervereinigung „Collegium musicum“ künstlerisch betreut. Wenn die Lehrer und Ärzte nicht gerade proben, gehen auch sie in jene von der Agentur Barbara V. Heidenreich organisierten „Potsdamer Hofkonzerte“. Diese sind mit ihren sehenswerten Tanzproduktionen und hörenswerten Kammerkonzerten, bei denen die Flöte im Mittelpunkt steht, mittlerweile zu einer feinen Adresse im Potsdamer Musikleben geworden.

Wie weiland prophezeit, ist „das ganze Eyland“ tatsächlich zu einem musikalischen Paradies geworden.

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