Seit dem Altertum gilt Ultima Thule als Land am nördlichen Rand der Welt, nicht selten auch als Synonym für Island. Dort ist noch heute die Allmacht der Naturgewalten unmittelbar zu spüren, in einer bizarren, bisweilen surrealistisch anmutenden Landschaft. Schroff kann sie wirken, ebenso kraftvoll und inspirierend. So hat der Schriftsteller und Nobelpreisträger Halldór Laxness seine Heimat als das Land gesehen, wo „Feuer zu Erde, die Erde zu Wasser, das Wasser zu Luft, und die Luft zu Geist geworden ist“.
Eindrucksvolle Metamorphosen dieser Art liegen fern für uns, so fern, dass das Inselreich manchmal einfach vergessen wird wie auf den ersten Euroscheinen. Denn wann hört man schon etwas von Island, wenn nicht gerade jetzt, höchst aktuell, infolge seiner durchschlagenden Finanzkrise? In eher großen Intervallen sorgte das Land mit seinen knapp 300.000 Einwohnern früher für Weltnachrichten, wenn etwa eine vorgelagerte Vulkaninsel aus dem Meer auftauchte, wenn ein Fischereikrieg ausbrach wie einst gegen die Briten, wenn in Reykjavík ein Gipfeltreffen zwischen Ost und West stattfand, wenn ein Schachweltmeister bei laufender Kamera auf einem Gletscher Blitzpartien spielte oder wenn, wie neulich, das zahlenmäßig kleine Volk olympische Medaillen erringt. Seit einiger Zeit freilich begegnen uns hierzulande wie überhaupt in Mitteleuropa isländische Schriftsteller und vor allem erfolgreiche Komponisten, Musiker, selbst international renommierte Opernsängerinnen und -sänger, so dass sich der Eindruck von einer dynamisch wachsenden Kulturnation erhärtet. Doch wie gelingt es dieser kleinen Nation derartige Potentiale zu entwickeln?
Island ist ein relativ junger, erst seit 1944 unabhängiger Staat, dessen Gesellschaft bei der Suche nach der eigenen Identität ein hohes Maß an Energien freisetzt. Und sie schöpft zugleich aus einer reichen kulturellen Tradition. Die Isländer sprechen eine seit eintausend Jahren unverfälschte Sprache, deren Sagas und Epen nach wie vor Literatur und Musik (hier über die Rímur-und Tvísöngur-Formen) mitprägen.
Für diese alten Gesänge hat sich Islands bis heute wichtigster Komponist Jón Leifs (1900–1968) nachhaltig interessiert. Er ist derjenige, dem Island vor allem seine imposante künstlerische und organisatorische Musikentwicklung zu verdanken hat. Im Zeichen der nordischen Musikkultur war er zunächst Nationalromantiker, bevor er einen immer avancierteren Personalstil entwickelte. Für Island hat er das nachgeholt, was vergleichsweise Grieg für Norwegen oder Sibelius für Finnland verwirklicht haben.
Ein Schlüsselerlebnis hatte Leifs, als er 1917 zum ersten Mal mitteleuropäischen Boden betrat und nach Leipzig kam. Die Aufführung von Liszts Faust-Symphonie war für den jungen Musikstudenten eine „Offenbarung“, denn so etwas wie ein Orchester hatte er in seiner isländischen Heimat noch nicht erlebt. Später gründete Leifs selbst in Island ein philharmonisches Orchester und rief Kammermusik-Ensembles, Chöre und Ausbildungsstätten, darunter zahlreiche Musikschulen, ins Leben. Zudem hat er unablässig – ähnlich wie Béla Bartók anderswo – nach verschütteten Strukturen in isländischer Volksmusik gesucht und eine Fülle an Materialien für seine eigene kompositorische Arbeit entdeckt.
Als Leifs verstarb, hinterließ er ein bedeutendes musikalisches Vermächtnis. In seinem Heimatland hatte er den Humusboden für ein modernes Musikleben geschaffen, dem nun neue Strategien erwuchsen. Man wollte zunächst künstlerische Wissenspotentiale im Ausland erwerben. Angehende isländische Komponisten studierten beispielsweise bei Bernd Alois Zimmermann oder Karlheinz Stockhausen. Wiederum andere wandten sich nach Zürich zu Wladimir Vogel, ins holländische Bilthoven zu Gottfried Michael Koenig oder bald schon nach Paris zu Pierre Boulez am IRCAM-Institut.
Die zweite Strategie aus den 60er- Jahren zielte auf die musikalische Infrastruktur in Island selbst. Hier wollte man flächendeckend ein Netz von Musikschulen knüpfen, das bis in die verstecktesten Fischerdörfer reichen sollte – ein Netz und zugleich eine Pyramide, dessen Spitze in Form eines akademieähnlichen Instituts in Reykjavík plaziert werden sollte. Heute besitzt Island mit seinen 80 Musikschulen, den 12.600 Studierenden und rund 700 Lehrern das relativ dichteste Musikschulnetz weltweit.
Wenn die Isländer von ihren musikalischen Ausbildungsstätten sprechen, meinen sie einen Typus Musikschule, der mehr umfasst als vergleichbare Einrichtungen mitteleuropäischen Zuschnitts. Von klein auf werden hier Schüler betreut und im Erfolgsfall ganz gezielt gefördert; die fortgeschrittensten bilden gemeinsam mit einem vielköpfigen Lehrkörper kleinere Orchestereinheiten. Unter dem einen Dach eines solchen Musikschulzentrums sind zudem vielerlei Aktivitäten vereint, sie reichen über die öffentlichen Konzerte bis zu Theateraufführungen, Literaturwerkstätten und Ausstellungen. Dieses Modell existiert im ganzen Land, wenn auch oft nur en miniature, und wird in Reykjavík gebündelt. Hier, wo mehrere Festivals existieren, wirken neben einem Opernensemble allein zwei Sinfonieorchester (dazu noch eines in Akureyri nahe dem Polarkreis) und mehrere, überaus erfolgreiche Klangkörper für Neue Musik.
Die Errungenschaften der isländischen Musikkultur sind jetzt mit einem Mal, jedenfalls in ihrer Kontinuität, in Frage gestellt. Denn die Republik Island stand kurz vor einem Staatsbankrott. Dieser Umstand ist, so kann man hören, nicht nur als Folge der internationalen Finanzkrise zu werten, sondern zu einem Teil auch als Ergebnis von Dilettantismus, Gleichgültigkeit und finanzieller Maßlosigkeit im Zeichen eines wild wuchernden Neoliberalismus. Erste Hilfe hat der Internationale Währungsfond geleistet, und im Zuge des weiteren Sanierungsplanes wird die Mitgliedschaft in der EU angestrebt. Überdies erscheint die frisch amtierende Ministerpräsidentin Johanna Sigurdardóttir als Hoffnungsträgerin, allerdings muss sie erst noch die raschen Neuwahlen in wenigen Wochen überstehen. Derweil fragen sich Künstler und Kulturpolitiker, in welchem Ausmaß ihre Budgets von der staatlichen Finanzkrise betroffen sein werden. Man erinnert sich an eine ähnliche Situation in Finnland. Das finnische Parlament beschloss, als das Land 1990/91 infolge der kollabierenden Wirtschaftsbeziehungen zu Osteuropa in eine schwere Krise geriet, alle Ressorts zu kürzen bis auf das der Kultur, insbesondere der Musikkultur, die sich heute durch eine Blüte ohnegleichen auszeichnet – aber die Dinge in Island mögen jetzt anders liegen.
Auf jeden Fall gehen erste Überlegungen dort davon aus, in nächster Zukunft kaum noch Spitzensolisten und Orchester aus dem Ausland einzuladen, sondern den Konzertbetrieb kostengünstiger mit den eigenen und zudem hervorragend ausgebildeten Kräften zu gestalten. Auch die bislang reichhaltige Vergabe von Kompositionsaufträgen könnte schrumpfen, aber von Schließungen einzelner Musikschulen, so heißt es, könne überhaupt keine Rede sein.
Es bliebe dem Inselstaat, der mit so viel Hingabe und Energien seine Musikkultur erfolgreich gefördert hat, zu wünschen, die gegenwärtige Situation mit klugem Augenmaß und dem bekannten Durchhaltewillen zu meistern.