Berlin - Christoph Eschenbach (75) gehört zu den großen Dirigenten unserer Zeit. Er wurde in Breslau geboren und flüchtete nach dem Krieg mit seiner Großmutter. Jetzt kommt er mit dem National Symphony Orchestra aus Washington auf Europatournee (2.-20. Februar). Im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur erzählt er, wie er die aktuelle Flüchtlingsdebatte sieht - und was er selbst erlebt hat.
Frage: Sie haben selbst Flucht erfahren. Wie verfolgen Sie die Debatte in Deutschland?
Antwort: Die interessiert mich natürlich sehr, wie Sie sagen, auch aus meinem eigenen Schicksal. Nur ist es jetzt ein globales Thema geworden, während es am Ende des Zweiten Weltkriegs eher ein europäisches, ein deutsches Problem war. Das macht die Sache schwieriger.
Frage: Erinnern Sie die Bilder sehr an Ihre Vergangenheit?
Antwort: Natürlich. Wenn ich Bilder sehe von Leuten, die in Schlauchbooten über das Mittelmeer kommen. Nicht so anders sah es aus in meiner Jugend. Das war zwar nicht in Schlauchbooten, aber im tiefen Schnee des Winters '45. Wo man irgendwo eine Krume Brot suchte. Und wo Leute vor einem, neben einem und hinter einem starben. Insofern kann ich dieses Phänomen sehr, sehr gut verstehen.
Frage: Hierzulande wird heftig gestritten - Abschottung oder nicht?
Antwort: Ich bin gegen eine Abschottung, total dagegen. Natürlich ist das immer eine Frage der Integration, und die muss man sehr klug handhaben. Aber ich bin ein Gegner davon, Grenzen zu schließen. Ich finde es interessant, dass sich die Kulturen vermischen. Deswegen sollte man die Flüchtlinge nicht so als Problem sehen, sondern man sollte viel aufgeschlossener sein. Wir sollten interessierter sein, was die Menschen, die nach Norden strömen, an Kultur mitbringen.
Frage: Weil sich auch unsere Kultur verändert?
Antwort: Ja. Zum Beispiel: Wir beginnen unsere Europatournee mit dem National Symphony Orchestra jetzt in Spanien. Und wenn Sie die spanische Musik angucken, die spanische Folklore oder die Architektur, dann sehen Sie sehr viel vom Islam darin. Und das meine ich mit Kulturvermischung. Das geht schon seit Jahrhunderten, Jahrtausenden vor sich.
Frage: Man liest, Sie hätten als Kind nach der Flucht angefangen zu schweigen?
Antwort: Ja. Ich war zu. Ich brauchte ein Ventil, das mich wieder öffnet. Und das war die Musik.
Zur Person: Eschenbach ist noch bis 2017 Generalmusikdirektor des National Symphony Orchestra in Washington. Seine Mutter starb kurz nach der Geburt, sein Vater war Musikwissenschaftler und Gegner der Nationalsozialisten. Er kam in einem Strafbataillon ums Leben. Mit seiner Großmutter flüchtete Eschenbach danach, sie starb aber in einem Flüchtlingslager in Mecklenburg.
Eschenbach wurde adoptiert, lernte das Klavierspiel und gewann bald erste Preise. Er arbeitete später zum Beispiel als Dirigent der Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz und des NDR Sinfonieorchesters Hamburg, er gewann einen Grammy und in München den Ernst-von-Siemens-Musikpreis, den sogenannten Nobelpreis der Musik.