Dresden - Gemeinsamer Gesang hat etwas Verbindendes: Ob nun ein Opernchor den Gefangenenchor aus Verdis «Nabucco» singt, oder Fans an der Anfield Road den FC Liverpool einstimmen. Oft ist Gänsehaut das Ergebnis. Der Dresdner Philharmonie ist mit der Gründung eines Bürgerchores ein Coup gelungen. Zur zweiten Probe war der mit etwa 190 Stühlen besetzte Chorprobensaal in der vergangenen Woche schon fast restlos gefüllt.
Wie schön könnte die Welt sein, wenn alles so wie in einem Chor funktionieren würde. Jeder muss auf den anderen hören, Rücksicht nehmen und auf seinen Einsatz warten. Und doch kann man sein individuelles Können in einer Gemeinschaft entfalten. Menschen aller Altersgruppen und oft auch aus verschiedenen Kulturen fühlen sich einem gemeinsamen Anliegen verpflichtet. Das Ergebnis ist harmonisch und wohlklingend. Jeder kann seine Stimme erheben - und bleibt nicht ungehört. Auch wenn er nicht aus der Menge herausragen wird und soll.
Auch diese Gedanken im Hinterkopf mögen die Stadt Dresden und ihre Philharmonie dazu bewogen haben, einen Bürgerchor zu gründen. Als der Kulturpalast im Zentrum der Elbestand im April 2017 nach jahrelangem Umbau wiedereröffnet wurde und sich als Residenz der Dresdner Philharmonie, der Stadtbibliothek und des Kabarettes «Herkuleskeule» präsentierte, war ein Bürgerchor praktisch schon programmiert. Denn offen sollte der 1969 eröffnete «Kulti» - wie ihn die Dresdner Bevölkerung seit jeher nennt - für alle sein. Hausherr ist hier die Bürgerschaft.
«Wir wollten Menschen, die gern singen, etwas anbieten. So kamen wir auf die Idee, einen Bürgerchor am Kulti zu etablieren - ein Chor, in dem sich interessierte Menschen aller Altersgruppen einfinden können, mit und ohne gesanglicher Erfahrung», berichtet Chordirektor Gunter Berger, der die Philharmonischen Chöre in Dresden, einen Kinderchor und einen Erwachsenenchor leitet. Beim ersten Zusammentreffen sangesliebender Bürgerinnen und Bürger war er überrascht. Mit etwa 140 Interessenten waren viel mehr gekommen als die Philharmonie erwartet hatte.
«Es war eine wunderbare Stimmung, und es klang unwahrscheinlich gut. Innerhalb von ein paar Minuten war ein großer Chor geboren», erinnert sich der 57-Jährige an das erste Zusammenkommen Anfang September. Viele hätten Erfahrungen mitgebracht, aus der Kindheit oder aus späteren Chorzeiten. «Das war ein wunderbares Miteinander. Wir haben mit ein paar Stimmübungen und Einsingen angefangen, um warm zu werden. Dann haben wir schon die ersten drei- und vierstimmigen Chorsätze begonnen. Das Resultat war sehr beachtlich», sagt Berger.
Ein erstes Ziel haben die Frauen und Männer vor Augen. Am 5. Oktober soll der Bürgerchor vor dem Kulturpalast mit anderen Ensembles die von Beethoven in seiner 9. Sinfonie vertonte «Ode an die Freude» anstimmen - wenn drinnen im Festsaal der 50. Geburtstag des Kulti gefeiert wird. Berger hat die Proben-Premiere des Bürgerchores als Akt eines Miteinanders erlebt. «Erfahrenere Sänger haben sich mit anderen gut gemischt und konnten so zusammenarbeiten. Die haben sich quasi untergehakt, das war alles sehr unkompliziert. Aus der Mitte des Chores war eine ganz große Sangeslust spürbar.»
Auch Birgit M. hat das Chorfieber erfasst. «Es hat sofort Spaß gemacht», sagt die 52-Jährige und räumt ein, beim Schlusschor von Beethovens 9. Sinfonie Gänsehaut zu bekommen. Jetzt hat sie sich einen langen Traum erfüllt. «Ich hatte das Ziel, mit 50 in einem Chor zu singen», verrät die Frau, die in einem technischen Beruf ihre Brötchen verdient. Das Singen betrachtet sie als Ausgleich, auf den Bürgerchor hat eine Freundin sie aufmerksam gemacht.
Gunter Berger sieht im Singen eine Energiequelle der Menschheit. Wenn er das Faszinosum des Chorgesanges erklären soll, verweist er gern auf einen Aphorismus des Dichters Wilhelm Raabe: «Singen ist das wirksamste Mittel, in einer Gemeinschaft aufzugehen, ohne sich in ihr zu verlieren.» Ein Chor könne Menschen mit unterschiedlichsten kulturellen Erfahrungen vereinen, sagt Berger. Daraus würden sich wertvolle Momente ergeben: «Das ist eine eigene Dynamik. Man wird von der Gruppe mitgetragen. Die Kommunikation und das Miteinander sind faszinierend. Als Chorleiter bekommt man das unmittelbar mit.»
Berger hält Chöre für ein Modell gesellschaftlichen Zusammenhaltes. Als Beleg führt er das Internationale Kinderchorfestival an, das die Dresdner Philharmonie alle zwei Jahre ausrichtet. «Innerhalb kurzer Zeit ist aus ein paar Chören, die bei uns zu Gast waren, eine große Gemeinschaft geworden. Die Sprachkenntnisse sind sekundär. Da werden ganz selbstverständlich Lieder aus anderen Kulturkreisen gesungen. Jede Sprache ist singbar, auch wenn sie für uns manchmal nicht leicht zugänglich ist.» Auf einer China-Reise hat der Philharmonische Kinderchor auch chinesische Lieder gesungen. Berger hat sich danach vergewissert - die Chinesen konnten die Texte sogar verstehen.
«Singen und sich gegenseitig zuhören hat gerade in unserer heutigen Zeit eine gesellschaftliche Relevanz», sagt Philharmonie-Intendantin Frauke Roth. Menschen kämen zusammen, um ihre Stimme zu erheben: «Dazu gehört auch immer, auf den Neben- oder Vormann zuhören, um sich am Ende in einem Klang zu vereinen. Ich wünsche diesem Bürgerchor ein langes Leben.» Nur eine Sorge treibt die Intendantin derzeit um. Der mit 190 Stühlen ausgerüstet Chorprobesaal hält dem Andrang bald nicht mehr stand. Deshalb erwägt Roth nun, irgendwann in den großen Saal der Philharmonie umzuziehen. Dort hätten bis zu 1800 Sänger Platz.