Kultur in Bochum, das war jahrzehntelang zuerst, wenn nicht allein das Schauspielhaus, sowohl im eigenen Selbstverständnis als auch in der Außenwahrnehmung. Trotz der Skulptur „Terminal“ von Richard Serra, die 1980, von heftigen Debatten begleitet, schräg gegenüber des Hauptbahnhofs aufgestellt wurde, trotz Herbert Grönemeyer, der 1984 mit „4630 Bochum“ Popmusikgeschichte schrieb. Und wer dachte schon an das Musical „Starlight Express“, das hier seit 1988 rollt? Das Theater war der Leuchtturm der 370.000-Einwohner-Stadt; die Intendanten Peter Zadek (1972 bis 1977) und Claus Peymann (1979 bis 1986), davor schon Saladin Schmitt (1919 bis 1949) und Hans Schalla (1949 bis 1972) stehen dafür.
Die Kommune ist gut damit gefahren, statt sich den traditionellen Drei-Sparten-Betrieb zu leisten, setzte sie ganz auf Schauspiel und stattete es so gut aus, dass es oben mitspielen und sich mit den ers-ten Theatern des Landes messen konnte. Die Königsgattung Oper wurde den Nachbarstädten Essen, Dortmund, Gelsenkirchen und Hagen überlassen, keine liegt mehr als dreißig Kilometer entfernt. Auch wenn die Konkurrenz der Kirchtürme das Zusammenwachsen des Ruhrgebiets zu einer großen Stadt verzögert, die Kultur läuft voraus und übt sich in Abstimmung und Arbeitsteilung. Das Publikum tut sich leichter als die Politik, über den Tellerrand der Stadtgrenze zu schauen und Auswahl und Vielfalt wahrzunehmen.
Diesen Platzhirsch-Status hat das Schauspielhaus heute nicht mehr inne, aus ganz verschiedenen Gründen. Die Stadt drücken Schulden, der Haushalt steht unter Kommunalaufsicht. Die Kohle ist weg – im doppelten Sinn. Das Theater hat nicht mehr den Rang, den es lange halten konnte, weder im nationalen noch im regionalen Vergleich. Für Intendanten ist es schwieriger geworden, Schauspieler fest zu binden und Ensembles zusammenzuhalten, und in puncto Lebensqualität kann es Bochum, schon Zadek und Peymann klagten über diesen „Standortnachteil“, mit Berlin, Hamburg oder Köln nicht aufnehmen. Die anderen Stadttheater im Ruhrgebiet, in Essen, Dortmund, Oberhausen und Mülheim, haben, auch wenn sie Bochum nicht den Rang ablaufen konnten, aufgeholt. Mit Anselm Weber wechselte 2010 ein Intendant, das war davor schwer vorstellbar gewesen, von Essen nach Bochum; im Sommer zieht er weiter nach Frankfurt am Main, was früher in der Gegenrichtung ein Karriereschritt war. Das Schauspielhaus, ein Theater wie viele andere? Die Berufung von Johan Simons stemmt sich dagegen: Im Herbst 2018 tritt der Regisseur, der die Münchner Kammerspiele und zuletzt die Ruhrtriennale geleitet hat, in Bochum an.
Stadt im Wandel
Aber auch die Stadt hat sich gewandelt. Der letzte Pütt wurde in Bochum, wo Ende der zwanziger Jahre noch siebzig Schachtanlagen Kohle förderten, 1973 geschlossen. Der Bergbau ist nach Norden gewandert – und ins Museum. Das Opel-Werk, das 1962, damals die modernste Automobilproduktionsstätte Europas, als Kompensation für das „Grubengold“ angesiedelt wurde, hat zu Hochzeiten 22.000 Menschen beschäftigt. Aus Kumpels wurden Facharbeiter. Seit 2015 ist es Geschichte, Nokia blieb eine Episode. Heute ist die 1965 auf einem Campus im Süden errichtete Ruhr-Universität, die auf 43.000 Studenten gewachsen ist, gleich nach der Stadtverwaltung der größte Arbeitgeber am Ort. Wie keine andere Institution ist sie, gemeinsam mit sechs weiteren Hochschulen, die stärkste Lokomotive des Strukturwandels, die den Weg von der Industrie- zur Wissensstadt („UniverCity“) bahnt. Als Bochum vor zwei Jahre eine neue „Dachmarke“ suchte, entschied es sich, ein Motiv aus dem Stadtwappen abwandelnd, für ein aufgeschlagenes Buch als Logo.
Die Universität hat die Stadt verändert, nicht von heute auf morgen, aber in fünfzig Jahren. Der Student im Ruhrgebiet hat eher ein eigenes Auto als eine eigene Bude, bleibt bei den Eltern in Herne oder Hattingen, Herten oder Herdecke wohnen, behält seinen Freundeskreis, fährt morgens ins Institut und am Nachmittag wieder nach Hause. Pendler-Uni: Die „Arbeitszeiten“ sind wie im Büro, spätestens um 18 Uhr ist „Schicht im Schacht“. Ein studentisches Milieu, eine alternative Szene mit Kleintheatern, Galerien, Cafés und Boutiquen, hat sich nur sehr allmählich herausgebildet – gerade auch ums Schauspielhaus ist sie entstanden. Das Bermuda3Eck zwischen Kortumstraße, Viktoriastraße und Kerkwege, wo sich seit den achtziger Jahren zu ein paar Kinos, Kneipen und Diskotheken mehr als sechzig Bars, Bistros, Clubs und Restaurants gesellten, ist das angesagteste Ausgehviertel des Ruhrgebiets.
Mit den Studenten und Wissenschaftlern sind auch die kulturellen Ansprüche und Ambitionen gestiegen. Die Städte im Ruhrgebiet haben, auch wenn manche von ihnen (wie Essen) einen mittelalterlichen Kern haben oder (wie Dortmund) der Hanse angehörten, eine grundsätzlich andere Entwicklung genommen als die Residenz- und Bürgerstädte. Groß geworden sind sie erst mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert, die sie explosionsartig wachsen ließ. Stadtrechte erhielt Bochum 1321, Großstadt wurde es 1904. Die oberirdische folgte der unterirdischen Stadt, die Bebauung dem Bergbau. Erst kam die Zeche, dann kamen Siedlung, Läden, Kirche, Rathaus, Kneipen, Krankenhaus: erst die Arbeit, dann die Kultur. Bis heute prägen Abraumhalden und Bergschäden, Diskontinuitäten und Defizite das Ruhrgebiet, ein heterogener, polyzentrischer Ballungsraum mit Ortszentren und Siedlungsrändern, Gewerbeparks, und Grünzügen, Industrie-, Brach- und Restflächen, von Verkehrstrassen vielfach zerschnitten. Ein amorphes Gebilde, das neue Koordinaten, Zusammenführung und Ordnung sucht. Lebensraum von mehr als fünf Millionen Menschen. Die größte Stadt Deutschlands, nur dass sie sich nicht so begreift und wahrgenommen wird.
Späte Konzerthäuser
Der Titel „Die verspätete Stadt“, die der Historiker Heinz Reif einer Studie über Oberhausen gab, passt pars pro toto auch auf das Ruhrgebiet. Gerade in der Kultur lässt es sich ablesen. So haben die beiden größten Revierstädte, Dortmund und Essen, jede mit mehr als einer halben Million Einwohnern, erst 2002 beziehungsweise 2004 Konzerthäuser eröffnet.
u Und Bochum 2016. Womit der Bogen zurück zum Schauspielhaus geschlagen ist. Denn im gleichen Jahr wie dieses wurden 1919 auch die Bochumer Symphoniker gegründet, nur dass sie, anders als das Theater, das kulturpolitisch die erste Geige spielte, ohne festes Haus auskommen musste. Im vergangenen Herbst war es soweit, 97 Jahre haben die Bochumer auf diesen Tag warten müssen: Die „Blume im Revier“ (Herbert Grönemeyer) eröffnete das Musikforum – am 27. Oktober für die Bürger, am Tag darauf offiziell. Ein langer, steiniger Weg hat endlich ins Ziel gefunden.
Ende des Nomadisierens
Seit 1947 war über einen Konzertsaal gesprochen und gestritten worden, noch jeder Generalmusikdirektor hatte ihn auf dem Wunschzettel. Schon zur „Europäischen Kulturhauptstadt Ruhr 2010“ sollte es soweit sein und das Nomadisieren des Orchesters, das vor allem im Schauspielhaus und im Audimax der Ruhr-Universität, auch in Schulaulen und in Kinos auftrat, ein Ende haben. Der erste Architekten-Wettbewerb war 2004 noch für den Standort im Westpark, auf dem Gelände des ehemaligen Bochumer Vereins für Bergbau und Gußstahlfabrikation (BVG), ausgeschrieben worden, gleich neben der Jahrhunderthalle, dem Hauptquartier der Ruhrtriennale, das 2016 die Adresse „Gerard-Mortier-Platz“ bekam. Auch ein gutes Beispiel für Stadtumbau, wie er im Ruhrgebiet im großen Maßstab stattfindet: Von 1976 bis 1979 wurde im Süden, an der Grenze nach Witten, ein aufgegebenes Grubenfeld in ein Naherholungsgebiet verwandelt und die Ruhr zum (drei Kilometer langen) Kemnader See gestaut.
Der Rat hatte das Projekt im Westpark bereits beschlossen, als der Lotto-Unternehmer Norman Faber seiner klammen Heimatstadt 2006 anbot, es mit fünf Millionen Euro zu unterstützen, wenn, so seine Bedingung, es in der Innenstadt, auf der Brache neben der Marienkirche, realisiert und die Bürgerschaft weitere zwei Millionen Euro beitragen würde. Geworden sind daraus mehr als sechs Millionen Euro, rund zwanzigtausend Bochumer haben sich beteiligt: Auch in diesem breiten Bürgerengagement offenbart sich der Wandel der Stadt. Die letzten drei Millionen Euro stellte die Stiftung der „WAZ“-Verlegerin Anneliese Brost (1920 bis 2010) bereit, die in Bochum geboren wurde und deren Namen das Musikforum (dafür) trägt. So wurden 14 der rund 38 Millionen Euro Gesamtkosten über Spenden finanziert und der Haushalt der Kommune mit nur 7,1 Millionen Euro belastet; die Städtebauförderung des Landes Nordrhein-Westfalen steuerte 9,5, die Europäische Union 6,5 Millionen Euro bei. Um gerade mal zehn Prozent wurde die Kalkulation überschritten. Die Elbphilharmonie in Hamburg war mehr als zwanzigmal so teuer!
Schon 2002 war in St. Marien das letzte Hochamt gefeiert worden. Die neugotische Kirche, von 1868 bis 1872 errichtet und nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut, war dem Verfall ausgeliefert. Sogar ihr Abriss wurde zwischenzeitlich erwogen. Ihr Erhalt bot die Chance sie einzubeziehen; das Stuttgarter Architekturbüro Bez + Kock, das 2012 den EU-weiten Realisierungswettbewerb gewann, entwickelte das Konzept dafür. Abweichend von der Ausschreibung überzeugte es mit dem Vorschlag, die Kirche nicht mit einem sie entstellenden Multifunktionsraum zu belas-ten, sondern diesen in einem eigenen Baukörper unterzubringen. So wurde aus dem zwei- ein dreiteiliges Ensemble, das die Kirche in die Mitte nimmt: Im Süden schließen der Konzertsaal und der – oberirdisch davon abgesetzte, unterirdisch damit verbundene – Verwaltungstrakt, im Norden der Multifunktionsraum an.
Mit diesem Entwurf konnte der räumliche Charakter der Kirche bewahrt, ja, sie zum Maßstab erhoben werden: Zu beiden Seiten der Chorapsis liegt der Haupteingang, das Schiff dient als Foyer, die Garderobe befindet sich unter der Empore, und von den vier Glocken, die, hergestellt vom BVG, aus statischen Gründen aus dem Turm genommen wurden, schlägt die größte (mit dem Ton B wie Bochum) als Pausengong. Hoch und festlich hell ist dieses Entree, in dem Lesungen, Performances oder Vorträge durchgeführt werden können.
Der neue Konzertsaal ist so breit wie das Kirchenschiff lang, seine Dachkante reicht bis an dessen Traufe. Wieder setzt die Kirche den Maßstab, ihr siebzig Meter hoher Turm bestimmt die Silhouette. Der Saal musste dafür in die Erde gesenkt werden; über ein Zwischenfoyer, für das die Außenwand der Kirche zur Innenwand wird, erfolgt die Erschließung. Wer hier eintritt, kann ihn vom Balkon aus gleich ganz überblicken: Modell Schuhschachtel, die durchweg mit einem warmen, hellen Holz, mit amerikanischer Kirsche, ausgekleidet ist. Das Auditorium ist in Parkett, Hochparkett, Balkon und eine Galerie mit zwei Reihen gegliedert und hat 964, mit hellem Stoff bezogene Sitze sowie zehn Rollstuhlplätze. Von der großen Bühne aus wirkt der Saal kleiner, dabei beträgt sein Volumen 14 000 Kubikmeter, wie es für Mahler oder Schostakowitsch Standard ist, und reicht bis unters Dach. Das aber ist nicht sichtbar: Eine Mikadodecke begrenzt den Raum optisch, aber nicht klanglich und lässt Tragwerk und Technik verschwinden. Die Akustik ist exzellent.
Die Nebeneingänge an den Längsseiten der Kirche sowie zusätzliche Türen in den Jochen rechts und links verbinden das Entree im Süden über das Zwischenfoyer mit dem Konzertsaal und im Norden mit dem Multifunktionsraum. Dieser kleine Saal, für bis zu dreihundert Zuhörer, lässt sich mit fahrbaren Trennwänden in zwei akus-tisch autonome Einheiten teilen und wird für Proben, Kammermusik, Jazz, Chorwerke und Konzerte der städtischen Musikschule genutzt, an der achtzig Ensembles spielen und mehr als zehntausend Kinder Unterricht nehmen. Das Projekt ist auch eine nachhaltige Investition in die musische Bildung: Was mit dem musikpädagogischen Programm „Jedem Kind ein Instrument“, das der damalige Bochumer (und heutige Münchner) Kulturdezernent Hans-Georg Küppers mit auf den Weg gebracht hat, gesät wurde, wird hier geerntet.
Im Zwischenfoyer stehen sich der rote Klinker der Kirche und der steinsichtig geschlemmte Klinker des Neubaus gegenüber: Das Material ist das gleiche, die Zeit eine andere. Der neue, hellere Stein bestimmt auch die Fassade des Konzertsaals, die horizontal gegliedert ist und mit dem Band der Obergadenfenster, den Verglasungen im Erdgeschoss und der verklinkerten Wandfläche die „klassische“ Dreiteilung anklingen lässt: Basis, Schaft, Kapitell. Die Plätze davor und dahinter (zur Humboldtstraße), wo drei Baumreihen gepflanzt und Bänke aufgestellt wurden, schaffen Stadträume mit Aufenthaltsqualität. Vis-à-vis dem Bermuda3Eck, wo jahrzehntelang eine mehr als viertausend Quadratmeter große Brache klaffte, wurde ein Stück Stadtreparatur geleistet und ein Impuls zur Stadtbelebung gesetzt. Der Standort zwischen Orthopädiehaus und Arbeitsgericht bestätigt, was der aus Gelsenkirchen stammende Tenor Torsten Kerl, als er im März für Wagners Tristan ans Musiktheater im Revier zurückkehrte, in einem Interview mit der „WAZ“ über das Ruhrgebiet sagte: „Hier ist nichts elitär hingepflanzt.“
Angebot und Nachfrage steigen
Das neue Musikforum soll nicht mit dem Konzerthaus Dortmund (1.550) und der Philharmonie Essen (1.900 Plätze), in denen internationale Klangkörper Tourneestation machen, in Wettbewerb treten, sondern Heimat für das Orchester und Begegnungsstätte der Bürger sein. Die Nachfrage hatte schon im Vorfeld kräftig angezogen: „Die Abonnements stiegen um ein Drittel auf etwa 2.500. Schon im Dezember konnten wir keine mehr verkaufen“, sagt Christiane Peters, die Pressesprecherin der Bochumer Symphoniker („BoSys“): „Wir machen 170 Eigenveranstaltungen in diesem Jahr, doppelt so viele wie früher.“ Das Orchester und Generalmusikdirektor Steven Sloane, der hier seit 1994 und noch bis (mindestens) 2020 am Pult steht, erhalten damit die Anerkennung, die sie sich schon lange erspielt, und das Domizil, das sie so lange entbehrt haben. „Du bist keine Weltstadt“, singt Herbert Grönemeyer in „Bochum“, doch so weit Großstadt, dass das Schauspielhaus, der Nachbar jenseits der Bahnunterführung, nicht mehr der einzige Ort ist, mit dem die Kultur identifiziert wird.
- Mehr über das Ruhrgebiet in dem Buch unseres Autors Andreas Rossmann: „Der Rauch verbindet die Städte nicht mehr – Ruhrgebiet: Orte, Bauten, Szenen“, mit Fotografien von Barbara Klemm und einem Vorwort von Karl Ganser, 264 S., Köln, Verlag der Buchhandlung Walther König, 2012