Gast beim Fachtag Musikalische Bildung in Nürnberg im Rahmen von MUBIKIN (Bericht s.u.) war unter anderem Oliver Scheytt. Scheytt war von 1993 bis 2009 Kulturdezernent der Stadt Essen und betreute viele Jahre lang auch die Ressorts Bildung und Jugend. Von 2006 bis 2012 war er Geschäftsführer der RUHR.2010 GmbH. Seit 1997 ist er Präsident der Kulturpolitischen Gesellschaft und seit 2007 Professor für Kulturpolitik an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. Scheytt war von 2003 bis 2007 Mitglied der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ des Deutschen Bundestages. Vor der Bundestagswahl 2013 war er als Experte für das Thema Kultur Mitglied des Kompetenzteams von Kanzlerkandidat Peer Steinbrück. Derzeit ist er Inhaber der Personal- und Strategieberatung KULTUREXPERTEN GmbH. Für die nmz sprach Barbara Haack mit dem Kulturexperten über kultur- und bildungspolitische Fragen.
neue musikzeitung: MUBIKIN ist eines von zahlreichen regionalen Musikalisierungsprojekten. An vielen Stellen schießen solche Projekte aus dem Boden, sind wenig oder gar nicht miteinander in Kontakt und sprechen auch politisch nicht mit einer Stimme. Führt dies nicht zur Zersplitterung des dahinter liegenden Anliegens?
Oliver Scheytt: Wir können feststellen, dass die kulturelle Bildung seit etwa Anfang des Jahrhunderts ein Mega-Thema in der Kultur- und Bildungspolitik ist. Es ist für private Stiftungen, überhaupt für viele Akteure, ein Feld, in dem sie sich engagieren. Das ist wunderbar, es führt aber dazu, dass wir keine systematische Vorgehensweise haben. Es gibt eine bunte, vielfältige Landschaft von Bildungsangeboten, bei denen nur sehr schwer eine Struktur erkennbar ist. Durch Modellversuche wird immer wieder etwas Neues ausprobiert. Auch Bund und Länder haben in der Vergangenheit solche Modellversuche zur kulturellen Bildung gemacht. Ich vermisse dabei eine systemische Auswertung, die dazu führen würde, unser Bildungssystem insgesamt stärker auf die kulturelle Bildung auszurichten. Wir müssen ja einerseits feststellen, dass im Schulbereich Musikunterricht ausfällt und andererseits viel Geld für solche Modelle ausgegeben wird. Positiv ist, dass es eine politische Aufmerksamkeit für die kulturelle Bildung und für solche Musikalisierungsprojekte gibt.
Wer hätte vor zehn Jahren gedacht, dass für ein Projekt wie „JeKi“ zweistellige Millionenbeträge bereitgestellt würden. Jetzt geht es eigentlich darum, nicht diese Vielfalt einzudämmen, aber doch eine nachhaltige Strukturentwicklung unseres kulturellen Bildungssys-tems zu initiieren. Da sollte man nicht nur einzelne Kommunen in den Blick nehmen. Letzten Endes müssen auch die Länder ihre Verantwortung wahrnehmen. Und ich freue mich darüber, dass nach dem jetzigen Stand der Koalitionsverhandlungen auch der Bund sich um Strukturentwicklung kümmern will. Denn das Projekt „Kultur macht stark“ hat ja genau an dieser Stelle seinen Webfehler. Wegen des vermeintlich wirkenden Kooperationsverbotes ist hier ein Projekt mit viel Bürokratie jenseits des eigentlichen Bildungssystems entwickelt worden. Ich hoffe sehr, dass in den nächsten vier Jahren dieser Webfehler auch auf Bundesebene bereinigt wird.
nmz: Welche Anzeichen gibt es dafür? Sie selbst waren an den Koalitionsgesprächen beteiligt …
Scheytt: Ich freue mich zunächst, dass in den Koalitionsverhandlungen überhaupt eine Arbeitsgruppe Kultur und Medien eingerichtet wurde. Es ist das erste Mal, dass dem Kulturbereich in Koalitionsverhandlungen so viel Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Wir haben uns in diesem Bereich auch um die kulturelle Bildung gekümmert und Passagen dazu in der Arbeitsgruppe formuliert, die darauf abzielen, dass der Bund seine Verantwortung wahrnimmt, dass „Kultur für alle“ in Form von Teilhabegerechtigkeit gerade durch kulturelle Bildung ermöglicht und auch strukturschwachen Ländern und Regionen dabei geholfen werden soll.
Insofern gibt es, wenn der Koalitionsvertrag zustandekommt, ein deutliches Zeichen, dass auch auf Bundesebene mit dem Thema kulturelle Bildung Ernst gemacht wird.
nmz: Inwiefern hemmt das Kooperationsverbot diese Bestrebungen?
Scheytt: Das Kooperationsverbot ist ja ein Schlagwort für die Tatsache, dass im Grundgesetz nur einzelne Bereiche des Bildungssektors ausdrücklich genannt sind, in denen der Bund etwas fördern darf und soll. Es gibt aber keinen Artikel des Grundgesetzes, der etwas verbietet. Man leitet nur daraus ab, dass in den im Grundgesetz nicht explizit genannten Fällen der Bund nichts tun dürfe, weil es das Grundprinzip der „Kulturhoheit der Länder“ gibt. Für den Kulturbereich existieren solche Bestimmungen gar nicht. Wenn man die kulturelle Bildung als Teil der Kulturförderung des Bundes ansieht, gibt es also kein Ko-operationsverbot.
nmz: Das ist aber in den letzten Jahren anders interpretiert worden.
Scheytt: Ja, in der Tat hat die Union das Kooperationsverbot immer als sehr wichtig angesehen. Es gab ja von dort schon früher immer wieder starke Hinweise auf die Kulturhoheit der Länder. Inzwischen ist man aber doch dazu übergegangen, das Leitbild des kooperativen Kulturföderalismus zu verfolgen und anzuerkennen, dass gerade in den strukturschwachen Ländern der Bund große Hilfestellung leisten und Dinge anschieben kann. Das gilt auch und gerade für die kulturelle Bildung. Ich bin ohnehin der Meinung, dass wir das Ganze mal in einem europäischen Zusammenhang sehen sollten. Wenn wir betrachten, dass andere europäische Länder im Bereich der kulturellen Bildung viel mehr tun – zum Beispiel Skandinavien, Österreich, Frankreich – dann haben wir einiges aufzuholen, wenn wir uns auch weiterhin als Kulturnation bezeichnen wollen.
nmz: Im Rahmen von G8 und Ganztagsschule ist in Sachen kulturelle Bildung viel von der Rolle der Schulen die Rede – auch in Zusammenarbeit zum Beispiel mit den Musikschulen. Es wird immer wieder gefordert, die Schulen müssten sich verändern. Kann das auch eine bundespolitische Aufgabe sein, oder muss das immer auf Landesebene geschehen?
Scheytt: Es ist gut, dass wir grundsätzlich ein dezentrales Bildungssys-tem haben. Je näher man an dem Menschen ist, desto besser weiß man, was erforderlich ist. Insofern geht es darum, den Schulen in ihrer Gestaltung des Schulprogramms Freiheiten und die Möglichkeiten zu geben, sich in der kulturellen Bildung zu engagieren, finanzielle Möglichkeiten und personelle Ressourcen.
Die kulturelle Bildung erfordert ja ein viel subjektiveres Vorgehen als zum Beispiel Mathematik. In der Mathematik ergibt eins plus eins immer zwei. In der kulturellen Bildung muss man auf die sozialräumliche Situation, in der sich eine Schule befindet, auf die Spezifika in einer bestimmen Stadt, einem bestimmten Stadtteil eingehen. Dieses Verständnis von Schule kann durch die kulturelle Bildungsarbeit in das Schulsystem hineingetragen werden und es damit auch in einem positiven Sinne verändern.
nmz: Am Beispiel MUBIKIN und auch anderswo ist zu beobachten, dass private Stiftungen häufig in eine Anschubfinanzierung gehen. Sind Stiftungen, private Geldgeber grundsätzlich dazu da, Aufgaben der öffentlichen Hand zu übernehmen?
Scheytt: Ich freue mich sehr, dass sich in den letzten Jahren große und kleine Stiftungen der kulturellen Bildung angenommen haben. Wenn das nicht geschehen wäre, wären wir beileibe nicht so weit, wie wir es heute sind. Wir brauchen diesen Anschub von außen, aber das muss doch für die Verantwortlichen in der Politik dazu führen, ihre Verantwortung in diesem Bereich zu erkennen und diese auch finanziell zu unterfüttern. Der Anschub von außen ist wichtig und kann zudem Innovationen bewirken, aber wir können es nicht auf Dauer zulassen, dass die kulturelle Bildung Angelegenheit von Privatinitiativen bleibt. Dieser Anschub entlastet die Politiker indes nicht von ihrer Verantwortung. ¢