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Es schmerzt. Im Park um das Festspielhaus jagt Wolfgang Wagner die Schwarzhändler von Eintrittskarten. Lagepläne markieren das Sperrgelände mit roten Linien: Innerhalb des umrandeten Bezirks darf nicht mit Tickets gehandelt werden. Auf den ordnungsgemäß zugeteilten und bezahlten Billetts findet sich aufgedruckt der Name des Bestellers. Warum nicht der Fingerabdruck? Muß man am Eingang den Personalausweis zücken, um zu beweisen, daß man auch „man“ ist? Derweilen teilen Polizeikordons die Premierenbesucher in Gut und Böse: Stoiber ist gut, Herr und Frau X aus Karlsruhe sind böse. Wer sich dem Gedrängel nicht entzieht, wird gerempelt. In der Pressekonferenz tags darauf wird abgerechnet. Kritiker, die das neue und alt gewordene Bayreuth nicht mehr gar so neu finden, werden gerüffelt. Die Pressekonferenz als Tribunal: Man möchte eine Satire schreiben. Aber es schmerzt. Warum hat das Bayreuther Festspiel, warum hat Wolfgang Wagner das alles nötig? Ist es der andere Schmerz? Weil die Söhne und Töchter des Enkels unablässig Widerworte gegen den „bösen Onkel“ schleudern? Ihn bezichtigen, die Vergangenheit Bayreuths im Nationalsozialismus zu verschleiern? Seine künstlerischen Entscheidungen als trost-und geistlose Monokultur kritisieren? Immer derselbe sture Rhythmus des Spielplans, immer wieder Barenboim und Levine.
Die Neue Musikzeitung hat in den vergangenen Jahren Wolfgang Wagners Bayreuther „Dramaturgie“, die Spielplangestaltung, die Besetzungspolitik kritisiert, nicht aus Bösartigkeit, sondern weil der Spielort Bayreuth besonders in einer Zeit kulturpolitischer Regression zu wichtig ist, um ihn der Routine zu überantworten. Für Bayreuth gilt das gleiche, was wir in der letzten Ausgabe über die Salzburger Festspiele konstatierten: Festspiele, die einen Anspruch auf kulturpolitische und gesellschaftliche Verbindlichkeit erheben, können sich nicht mehr mit der „kulinarischen“ Befriedigung schlichter Bedürfnisse nach Unterhaltung legitimieren. Sie müssen vorbildhaft wirken: gegen die Nivellierung allerorten, gegen die gedankenlose Freigabe kultureller Verpflichtungen, gegen die Aufgabe des eigenen künstlerischen und ästhetischen Anspruchs, der identisch sein sollte mit dem Anspruch, den der verantwortlich sich fühlende Teil einer demokratischen Gesellschaft an sich und an die damit verbundene kulturelle Artikulation stellt. Salzburg hat in Gerard Mortier für diese Aufgabe den „Sprecher“ gefunden. In Bayreuth liegen die Dinge ähnlich, nur daß Wolfgang Wagner nach dem Tod Wielands, mit dem er das „neue Bayreuth“ nach den Verwüstungen des Dritten Reiches zu neuem Leben erweckte, die geforderte Verantwortlichkeit für die aktuelle Befragung der Festspiele und des Werkes Richard Wagners schon in den siebziger Jahren stellte. Wolfgang hat den Chéreau/Boulez-„Ring“ gegen wütende Alt-Wagnerianer durchgesetzt, er hat Harry Kupfers „Fliegenden Holländer“ trotz heftiger Proteste im Spielplan behalten, er hat, noch in den siebziger Jahren, Götz Friedrichs „Tannhäuser“ akzeptiert, und auch der Jubiläums-„Parsifal“ im Jahre 1982, ebenfalls von Friedrich inszeniert, bot gängigen Vorstellungen des Werkes entschiedenen Widerpart in Interpretation und Optik. Auf den eher diffusen „Ring“ des Engländers Peter Hall, auf Wunsch Georg Soltis engagiert, folgte immerhin die aktuelle „Ring“-Sicht Harry Kupfers. Eher ein Nachtrag war Heiner Müllers „Tristan„-Interpretation: die solipsistische Perspektive, die schon Ruth Berghaus in ihrer Hamburger Inszenierung vorgezeichnet hatte.
Wenn in den letzten Jahren das Erscheinungsbild der Wagner-Festspiele verblaßt ist, so liegt das nicht allein an Wolfgang Wagner, sondern mehr noch an einer gewissen Erschöpfung des Vokabulars, mit dem Wagners Werke neu interpretiert werden könnten. Gewiß: da waren der Wernicke-„Ring“ für Brüssel/Frankfurt, der Pariser Chátelet-„Ring“ von Pierre Strosser, der Hamburger „Ring“ von Günter Krämer, mit Darstellungs-und Interpretationsvarianten, die auch Bayreuth geziert hätten. Sie hätten sich auf dem Grünen Hügel allemal avancierter ausgenommen als der Boutiquen-Schnickschnack von Rosalie.
Wenn Wolfgang Wagner aus dem Circulus vitiosus der gegenwärtigen Bayreuth-Dramaturgie ausbrechen, den Elan der siebziger Jahre zurückgewinnen möchte, dann hilft nur die Radikalkur, in die nicht allein die Szene, sondern mehr noch das Musikalische einzubeziehen wäre. Barenboim und Levine in Ehren, und Sinopoli, der den „Ring 2000“ dirigieren soll, ebenfalls, aber gibt es nicht andere, jüngere Dirigenten, die etwas zur gegenwärtigen musikalischen Ästhetik Wagners beitragen könnten? Immerhin hat Wolfgang Wagner Antonio Pappano für den „Lohengrin 1999“ ausgespäht - ein erster Schritt zum Besseren? Neu ist auch Jürgen Flimm als „Ring“-Regisseur für das Jahr 2000, aber Flimm wirkte in letzter Zeit auch manchmal leicht erschöpft in seinen Ausdrucksmitteln. Und was ist mit den Wagner-Sängern? Wolfgang Wagners Treue zum „Stamm“-Ensemble beansprucht Respekt, doch Siegfried Jerusalems Tristan in diesem Jahr bei der Premiere näherte sich in den ersten beiden Akten einer Fast-Katastrophe. Vielleicht ist die Erneuerung der musikalischen Substanz der Bayreuther Festspiele vordringlicher als das Szenische. Der Fragenkatalog ist lang geworden. Man möchte Wolfgang die Energie wünschen und den Überblick, Unwichtiges von Dringlichem zu unterscheiden. Die Bewältigung der dunklen Vergangenheit Bayreuths, von einem Familienmitglied öffentlich eingefordert, sollte Wolfgang Wagner unabhängigen Historikern übertragen. Die notwendige Retrospektive kann aber die ebenso notwendigen Schritte in der Fortschreibung der Wagner-Interpretation in Bayreuth nicht blockieren. Stockhausens Lichtzyklus in Bayreuth, wie ein Kritiker forderte, ist unnötig. Es genügte neues Licht auf Wagners Werk.