Der Fall des Hans Heinrich Eggebrecht (1919–1999), skandalisiert durch einen jungen Musikologen, war der Auslöser: Ende 2009 geriet die deutsche Musikwissenschaft zum ersten Mal seit Menschengedenken in die Schlagzeilen: Der Freiburger Ordinarius hat mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit als junger Unteroffizier der Feldgendarmerie-Abteilung 683 an Verbrechen der Wehrmacht teilgenommen.
Nach dem Krieg konnte er seine Biographie verschleiern und eine unangefochtene Wissenschaftlerkarriere absolvieren. Mittlerweile mobilisierte der Vorstoß Boris von Hakens, der die Restunschuldsvermutung nicht mit gerichtsverwertbaren Beweisen außer Gefecht setzen konnte, ans Groteske grenzende Abwehrkräfte in einer Branche, die – wie überhaupt das „Musikschrifttum“ – nach 1945 in beiden deutschen Staaten von Entnazifizierung gänzlich verschont blieb. Die Ergebnisse der groß angelegten Forschungsprojekte zu Musik und Musikern in der NS-Zeit von Joseph Wulf (1912–1974) und Fred K. Prieberg (1928–2010) ließen sich summa summarum in auffälliger Weise ausgrenzen. Nur mit großen Zeitverzögerungen passte die dominante West-Musikwissenschaft sich seit den späten 60er-Jahren den Diskursen in den benachbarten Geisteswissenschaften an, bequemte sich zur Exilforschung und seit 1990 notgedrungen zu einem etwas breiter aufgestellten Methodenpluralismus.
Inzwischen wächst eine neue Generation von Forschern nach, die sich den „heiklen Jahren“ auch der eigenen Branche und deren kontaminierter Felder zuwendet. Dies ist das erfreuliche Signal, das von der Tagung „Musik(wissenschaft) – Nachkriegskultur – Vergangenheitspolitik“ ausging. Das Symposium der Gesellschaft für Musikforschung (GfM) Ende Januar in Mannheim befasste sich anlässlich der Referate von Michael Custodis, Dietmar Schenk und Philine Lautenschläger durchaus kritisch auch mit der (von der amerikanischen Besatzungsmacht wg. des allzu hohen Belastungsgrads der Antragsteller) untersagten Gründung der GfM 1947 sowie mit den In- und Auslandsstrategien des Rasseforschers Friedrich Blume. Bei ihm liefen vor und nach Kriegsende die Fäden zusammen. Blume verstand sein Netzwerk nach 1945 rasch zu reparieren und die meisten emigrierten Kollegen ruhig zu stellen. Schließlich hat er Form und Inhalt der Enzyklopädie „Musik in Geschichte und Gegenwart“ (MGG) festgezurrt, um die sich bis heute die deutschsprachige Musikforschung schart.
Untersuchungen zum Wirken der amerikanischen Besatzungsmacht, die ab 1947 für den „Kalten Krieg“ mobilisierte, hat Ulrich Blomann vorgenommen, dessen grundsätzliches „Enthüllungsbuch“ in Kürze für Aha-Erlebnisse sorgen dürfte (bis hin zu den Details der „Umpolung“ wortführender Repräsentanten der Branche durch Offiziere der Besatzungsmächte). Rainer Bayreuther befasste sich in Mannheim, scharf polarisierend, mit zwei zentralen Entlastungsargumenten der Kontinuitätswahrer: „Ich hatte Konflikte mit dem NS-Staat“ und „Ich war kein Antisemit“. Matthias Pasdzierny würdigte die Biographie des aus Australien nach Köln zurückkehrenden Musiksoziologen Alphons Silbermann – dessen teilweise Eingemeindung bei fortdauernder Ausgrenzung. Erörtert wurden am Rande auch die „strategischen Partnerschaften“ von Remigranten und deutschen Mutationskünstlern anhand des Verhältnisses von Theodor W. Adorno und dem Volksliedforscher Joseph Müller-Blattau.
Hilfreich standen der Mannheimer Konferenz vier Professoren anderer akademischer Fächer zu Verfügung. Sie verwiesen auf die generellen Entlastungsmechanismen und die Generationen-Problematik: erst die von den Tätern und Opfern, deren Angehörigen und Schülern losgelöste dritte Generation scheint offensichtlich in der Lage, weitgehend sine ira et studio zu Werke zu gehen (auch steht ihr erstmals umfassendes Archivmaterial zu Verfügung, das zuvor unter Verschluss war). Peter Steinbach, Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin, benannte die Konjunkturen der Geisteswissenschaften und der öffentlichen Diskurse als weitere Voraussetzung für das späte Erblühen des Aufarbeitungswillens.
Bernd Weisbrod punktete mit dem Bonmot, dass die Zeitzeugen die geborenen Feinde der Historiker seien – und die anwesenden schienen ihm Recht zu geben. Freilich verdankt die allgemeine Geschichtsforschung für die Basis ihrer generalisierenden Thesen den Zeugen – bis hin zu den unter Musikforschern fortdauernd übel beleumundeten Fachjournalisten – mehr, als oberhalb der Fußnoten eingeräumt wird. Der Göttinger Historiker stieß im Anschluss an Andreas Lindenmanns Ausführungen zur Musik-Politik der französischen Besatzungsbehörden eine grundsätzliche Diskussion an: dass der Umerziehungswille vor den Gefilden der Tonkünste Halt machte, weil die Siegermächte erklärtermaßen oder stillschweigend von Primat und Dominanz der deutsch-österreichischen Instrumental-Musik im 19. Jahrhundert ausgingen. Wie wenig anderes hatte die daraus entspringende Bewusstseinsform einen Dünkel begründet, den die NS-Elite bestens zu nutzen verstand. Dennoch beschränkten sich die alliierten Reedukationsstrategien auf die (komplementäre) Ergänzung der deutsch geprägten Nachkriegsrepertoires und setzten auf allmähliche Lockerung des deutschen Wesens. Vor allem bei der jüngeren Generation.
Gesamtpolitisch war dieser Strategie Erfolg beschieden. Die Verlockungen von Coca Cola, Elvis Presley, Jacques Brel, der Jeans, der Beatles, der Pille und der Stones haben gründlicher gewirkt als alle Verordnungen es gekonnt hätten. Bezogen auf das Fach bildet sie ein Erklärungsmuster für das Versagen der Musikforschung hinsichtlich der „Verwicklungen“ und Täterschaften in der Mitte des 20. Jahrhunderts.
Es handelt sich um ein Desiderat, das noch lange nicht behoben ist. Die Schüler und Nachfolger Friedrich Blumes sorgten dafür, dass die erst 2008 abgeschlossene 29-bändige Musikenzyklopädie MGG bezüglich der Väter- und Großväter-Generation fortdauernd in nicht mehr vertretbarem Maß als lückenhaft, verschleiernd und beschönigend wirkt. Eine umfassende Überarbeitung steht an. Das wenigs-tens war ein greifbares Ergebnis der Mannheimer Tagung. Schwieriger als mit den Korrekturen auf der Faktenebene wird es sein, die angebliche oder tatsächliche „Sonderrolle“ der deutschen Musik und – dies berührt tiefste Gemütswerte – ein daraus bis heute resultierendes Bewusstsein des „Erwähltseins“ aus Köpfen und Publikationen zu spülen.
Ein ausführlicher Kongressbericht ist unter der Überschrift „Fünfundvierzig Jahre Verspätung“ auf nmz online zu lesen.