Verträge schließt man für den Konfliktfall, und Grundsatzpapiere sollen sich in der Krise bewähren! Verlautbarungen, Resolutionen und lautstarke Absichtsbekundungen, die bei schönem Wetter in die Welt gesetzt werden und in stürmischen Zeiten im Papierkorb landen, gibt es im Kultursektor zu Hauf – so auch für den Bereich der katholischen Kirchenmusik in Deutschland.
Im Jahr 1991 erließen die deutschen Bischöfe ein Grundsatzpapier, das „Die Kirchenmusikalischen Dienste/Leitlinien zur Erneuerung des Berufsbildes“ übertitelt war und dem ein Paradigmenwechsel zugrunde lag: Die Kirchenmusik sollte zu einem fast gleichberechtigten Part der seelsorglichen und kulturellen Arbeit werden.
Drei Tätigkeitsfelder
Drei Bereiche wurden in den „Leitlinien“ konkretisiert: erstens die gottesdienstliche Praxis (inzwischen mit Blick auf die verbreiteten Formen und vor allem auf die in ihnen gepflegten musikalischen Stile deutlich angereichert, so etwa durch die christliche Popularmusik und das so genannte „Neue Geistliche Lied“). Zweitens wurden die pädagogisch-katechetischen Aufgaben herausgestellt, durch die eine enge Verzahnung mit den allgemeinbildenden Schulen in den Blick kam (Stichworte wären hier Ganztagsschule und kombinierte Stellen) und die zudem in eine gemeindliche Arbeit mit Kindern und Jugendlichen zielten. Drittens schließlich ein Hinweis auf die zunehmende Bedeutung der Kirchenmusik im Kontext der so genannten „Fernstehenden“: Die religiöse Botschaft der Musik erreicht im Konzert die Menschen auch dort noch, wo die Kirche mit all ihren gottesdienstlichen und katechetischen Bemühungen sie nicht mehr trifft.
Umbruch oder Zusammenbruch?
Die Rahmenbedingungen haben sich seit diesen Zeiten gravierend verändert, und das in einem Tempo, das 1991 niemand erwartet hatte. Die finanziellen Mittel stehen auf Dauer bei weitem nicht mehr so zur Verfügung, wie das vor 30 Jahren noch der Fall war. Katastrophaler als der Geldmangel ist jedoch der Personalmangel: Die Zahlen an geweihtem Seelsorge-Personal sind dramatischer eingebrochen als noch vor wenigen Jahrzehnten prognostiziert. Wenn „Gemeinde“ ausschließlich über die Priesterzahlen definiert wird nach dem Motto: „Wo kein Priester, da keine Gemeinde – wo keine Gemeinde, da keine Gottesdienste – wo keine Gottesdienste, da keine Musik“, dann kommt die Kirchenmusik sukzessive in den Würgegriff.
Am massivsten aber wirkt sich seit einigen Jahren der sich mehr und mehr auftürmende Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche aus. Die Erkenntnisse über jahrzehntelange und vieltausendfache sexualisierte Gewalt in den Gemeinden, aber auch in hochangesehenen musikalischen Einrichtungen (Knabenchöre, kirchliche Schulen und Internate seien nur beispielhaft erwähnt) zehren die Substanz auf, denn sie beschädigen das wertvollste Kapital der Kirche nachhaltig: ihre Glaubwürdigkeit. In den Jahren 2010 bis 2020 hat die katholische Kirche in Deutschland zirka zwei Millionen Mitglieder durch Austritt verloren – ein Exodus mit galoppierender Dynamik!
Dann auch noch die Pandemie
Die Corona-Pandemie hat über die nun schon zwei Jahre an Dauer tiefe Spuren hinterlassen, deren gravierende Konsequenzen sich in der nächsten Zeit erst noch erweisen werden. Das bange Starren auf die Zahl der aktiven Mitglieder in den Chören ist das eine – und das andere die Frage nach der verbleibenden Gemeinde: Wer wird nach der Pandemie wieder zu den Proben und Aufführungen der Chorgruppen kommen, aber wer überhaupt noch zur Kirche? Waren die (gemessen an der Mitgliederzahl) knapp 10 Prozent an Gottesdienstbesuchen vor der Pandemie schon reichlich wenig, kommen nun ganz andere Überlegungen auf die Verantwortlichen zu: Werden zahlreiche Veranstaltungen nicht ganz überflüssig, weil keine feiernde Gemeinde mehr da ist? Denn nicht wenige könnten nach vielen Monaten Zwangspause zur Ansicht gekommen sein, dass ihnen da gar nichts fehlt.
Die Frustration nimmt zu
Natürlich sind diese Entwicklungen nicht ohne Konsequenzen für die Musik geblieben. In den kirchenmusikalischen Ausbildungen wird schon seit Jahren ein massiver Rückgang an Bewerbungen verzeichnet. So manche Ausbildungsstätte steht auf der Kippe oder kann sich derzeit nur noch durch Kombinationsstudiengänge (z.B. mit Lehramt Musik) halten. Zudem gehen bei weitem nicht alle Absolventinnen und Absolventen in den kirchenmusikalischen Beruf und bewerben sich um Stellen. Die Arbeitgeberseite verzeichnet hier schon lange einen deutlichen Rückgang an Bewerbungen – nicht nur quantitativ, sondern auch mit Blick auf die Qualität. Das hat mehrere Ursachen: überforderte und demotivierte Seelsorger als Vorgesetzte, ein disparates und mit Blick auf verstaubte Loyalitätspflichten arbeitnehmerfeindliches Arbeitsrecht und die unüberschaubaren Verantwortlichkeiten durch immer größer werdende Seelsorgeeinheiten. Wechselnde Dienstumfänge führen zu Änderungskündigungen und zwingen Väter und Mütter zur Aufnahme von kaum familienfreundlich koordinierbaren Nebenjobs. Gelegentlich muss man die katholische Kirche darauf hinweisen, dass ihre hehren Aussagen zum Wert, ja, zur „Heiligkeit“ der Familie auch für Kirchenmusiker-Familien gelten. All das führt bei vielen Hochschulabsolventen zunehmend dazu, eine hauptamtliche Stelle erst gar nicht mehr anzustreben. Natürlich spricht es sich auch herum, dass viele Hauptberufliche nach einigen Dienstjahren hochgradig frustriert sind und in die innere Emigration gehen oder scharenweise den Dienst verlassen – sei es als Aus- und Umsteiger etwa in den Schuldienst, sei es in dauerhaften Krankenstand, sei es in Richtung Frühpensionierung.
Welche Kirche wird gebraucht?
Steht die katholische Kirchenmusik damit vor dem Aus? Ein klassisches „Jein!“ – und damit kommen wir zum Ausgangspunkt zurück. Es ist hohe Zeit, die Bischöfe an ihr Wort von 1991 zu erinnern; jetzt ist die Kirche genau in der massiven Krise, in der sich ein Grundsatzprogramm wie die „Leitlinien“ bewähren müsste. Noch gibt es nämlich neben den vielen Trümmerfeldern auch die Stellen, in denen kirchenmusikalische Arbeit gelingt und zum Erhalt der Gemeinde beiträgt. Gerade da, wo seelsorgliche Strukturen aufgrund von Personalmangel auf Dauer nicht mehr aufrecht zu erhalten sind, kann eine gute kirchenmusikalische Arbeit für eine Gemeinde ein wichtiger Impulsgeber sein: Kinderchöre, Jugendchöre, verschiedene Erwachsenenchorgruppen – welch immenses Potential verbirgt sich hier, wenn nachpandemisch keine Mittel gescheut werden, es neu zu aktivieren! Allerdings werden sich die Menschen der Kirche nur dann zuwenden, wenn sie sie als wertvollen Teil ihres Lebens erfahren – und nicht als von Mehltau überzogenes klerikales Machtgefüge oder gar als Bedrohung für das leibliche und seelische Wohl ihrer Kinder. So steht eine erfolgreiche Überlebensstrategie für die Kirchenmusik zuerst vor einer Frage, die sie nicht selbst beantworten kann: Welche Kirche wird gebraucht?
Betrachtungsrichtung ändern
Vielleicht ist es an der Zeit, die Betrachtungsrichtung einmal umzudrehen: Gaben die „Leitlinien“ 1991 noch eine klare Priorisierung vor (gottesdienstliche Funktion – pädagogische Aufgabe – pastorale Chance), so liegt die Herausforderung vielleicht darin, dass die katholische Kirche sich einmal von außen wahrnimmt, von ihrem gesellschaftlichen Umfeld und von Anforderungen und Notwendigkeiten, die sich von hier aus ergeben. Glaube und Spiritualität sind nach wie vor sehr gefragt; die Kirchenmusik kann Brücken bauen zwischen Menschen, aber auch zwischen den Menschen und Gott. Sie kann dazu beitragen, die existenziellen Fragen des Menschen auch jenseits des Katechismus in Wort und Klang zu bringen, ohne sie zu rasch beantworten zu wollen. So gilt: „Wo Musik – da Gottesdienst und Gemeinde! Wo Gottesdienst und Gemeinde, da später vielleicht auch mal wieder geistliche Berufungen!“
Zentren für Kunst und Kultur?
Wenn schon Seelsorgestellen nicht mehr besetzt werden können: Warum nicht eine gut ausgestattete Kirchenmusik schaffen, die den pädagogischen und pastoralen Auftrag der Kirche erfüllen kann – immer vorausgesetzt, man findet das richtige Personal dazu? Wenn man schon flächendeckend hunderte von Kirchbauten aufgibt und sich den Kopf über würdige Umwidmungen zerbricht: Warum eigentlich nicht einmal nachdenken über ein ökumenisches Zentrum für Kunst und Kultur – eine Begegnungsstätte für die rasant wachsende Zahl kirchenferner Menschen, die mit den existenziellen Fragen ihres Lebens ringen und einen Punkt zum spirituellen Andocken suchen? Und wie viel muss sich erst in den Gottesdiensten ändern – auch musikalisch! Damit ist keineswegs die schon gescheiterte Strategie der Instrumentalisierung von Musik gemeint, zum Beispiel um mit „Praise and worship“-Schnulzen ausgerechnet Jugendliche wieder an die Kirche binden zu wollen.
Strukturen – noch tragfähig?
Um den verschiedenen Verantwortungen gerecht werden zu können, fassten die Bischöfe die Leiter*innen der Ämter für Kirchenmusik in einer neuen Dienstebene zusammen und gründeten 1992 die „Arbeitsgemeinschaft der Ämter/Referate für Kirchenmusik der Diözesen Deutschlands“ (AGÄR); damit war neben dem Allgemeinen Cäcilienverband (ACV, gegründet 1868) und der Konferenz der kirchenmusikalischen Ausbildungsstätten (KdL, gegründet 1967) eine dritte Säule entstanden: der Arbeitgeber Kirche.
Alle drei Institutionen sind in die Jahre gekommen und stehen vor Fragen: Welchen Beitrag werden sie leisten können, um die katholische Kirchenmusik zukunftsfähig zu machen? Welchen Einfluss werden sie überhaupt noch haben – in den kirchlichen Verwaltungen, in den Hochschulen, in der Gesellschaft?
Und dann die eigentlich zentrale Frage, welche sich der Betrachter angesichts der Themen stellt, die in letzter Zeit in diesen Gremien behandelt wurden: Wer braucht diese Institutionen überhaupt noch, wenn sie doch nicht verhindern können, dass am Ende von der Musik in der Kirche nur noch das bange Pfeifen im dunklen Keller übrig zu bleiben droht?