Seit der Gründung des Jazzinstituts Darmstadt im Jahr 1990 ist Wolfram Knauer dessen Leiter. Aus dem Archiv, das sich anfangs vor allem aus der Sammlung des Jazzexperten Joachim Ernst Berendt rekrutierte, ist in dieser Zeit ein weltweit anerkanntes und in Deutschland einmaliges Institut geworden. Andreas Kolb sprach mit Wolfram Knauer über Jazzforschung, Jazzarchive, Jazzkonzerte und warum er glaubt, dass es die Musikrichtung Jazz auch in Zukunft geben wird.
neue musikzeitung: Gibt man bei Wikipedia oder Google das Wort „Jazzinstitut“ ein, dann landet man beim Jazzinstitut Darmstadt. Es ist das deutsche Jazzinstitut. War das 1990 bereits so angedacht?
Wolfram Knauer: 1990 wusste natürlich niemand, was daraus werden würde. Es gab den archivalischen Grundstock, nämlich die Sammlung des Jazzpublizisten und -produzenten Joachim Ernst Berendt, und es gab 1988 die international wahrgenommene große Ausstellung „That’s Jazz. Der Sound des 20. Jahrhunderts“ auf der Mathildenhöhe. Man wusste in der städtischen Kulturpolitik, dass da offenbar ein großer Schatz in der Stadt existierte, aber man wusste nicht so genau, welche Bedarfe in der Jazzszene sich mit diesem bedienen ließen. Als Günter Metzger, Oberbürgermeister und Kulturdezernent in den 1980er Jahren, die Berendt-Sammlung nach Darmstadt holte, schwebte ihm noch vor, dass Jazz und Neue Musik, für die Darmstadt ja mit den Ferienkursen für Neue Musik einen großen Namen hatte, zusammenpassten. Spätestens nach der Ausstellung erkannte man, dass sich mit einem eigenständigen Jazzinstitut ganz anderes bewegen ließe.
nmz: Wie sind Sie selbst nach Darmstadt gekommen?
Knauer: Ich bin geborener Kieler und habe dort auch Musikwissenschaft studiert und eine Dissertation über das Modern Jazz Quartet verfasst. Daneben übersetzte ich Bücher für den Hannibal Verlag aus dem Englischen ins Deutsche. Im Februar 1990 hatte ich ein Treffen mit einem Verleger und einem amerikanischen Autor in Wien, als ich die Anzeige in der „Zeit“ sah. Ich ging in die nächste Telefonzelle und rief meine beste Freundin an: „Du, da hat jemand meine Biographie abgeschrieben und daraus eine Stelle gemacht.“ Jedenfalls war in der Ausschreibung etwas von Jazzforschung zu lesen, von der Pflege der deutschen Jazzszene, vom Kümmern um die lokale Szene, von Workshops und Konferenzen – eigentlich schon die Idee der Netzwerkarbeit, die wir dann später tatsächlich machten.
nmz: Haben Sie keinen horror vacui verspürt, die Angst vor dem leeren weißen Blatt Papier, vor dem zu gründenden Institut?
Knauer: Von heute betrachtet war es einfach ein großer Luxus, wenn einem jemand den Raum und die Möglichkeiten zur Verfügung stellt und dann sagt: „Machen Sie mal“, einen also dazu ermuntert, die eigene Kreativität walten zu lassen. Ganz am Anfang gab es ja durchaus Skepsis aus der Szene, Anrufe von Musikern, die fanden, das Geld, das in dieses Institut fließt, solle doch lieber der Musikszene zugutekommen. Ich habe dann zurückgefragt: Was können wir denn für euch tun, was würdet ihr denn brauchen? Eine der Antworten war: Wir bräuchten einen Gig Guide, ein Verzeichnis von Veranstaltern, Clubs, Festivals. Und das war die Geburtsstunde des „Wegweisers Jazz“, dessen erste Ausgabe 1993 noch als zusammengeheftete Broschüre erschien. Danach hatten wir die Szene hinter uns, vielleicht, weil sie merkte, dass wir uns nicht im Elfenbeinturm verstecken, nicht nur wissenschaftliche Forschung treiben, sondern uns sowohl mit die Jazzszene als auch der Region verbunden fühlen.
nmz: Wie hat sich das Jazzinstitut entwickelt vom Archiv zu einem Veranstalter, der auch in der Region tätig ist, bis hin zu einer Einrichtung, die auch forscht und international vernetzt ist?
Knauer: Zu Beginn mussten wir vor allem das Archiv neu ordnen und zugänglich machen. Spätestens mit dem „Wegweiser Jazz“ machten wir aber bereits Lobbyarbeit. Beispielsweise verzeichneten wir darin ab Mitte der 1990er Jahre die Höhe der Jazzförderung aller Bundesländer, die wir in den betreffenden Ministerien abfragten. Und plötzlich wurde man sich dort bewusst, dass der Jazz in der oft ehrenamtlichen Struktur seiner Szene ein weitaus größerer Bereich war, als man ihn wahrgenommen hatte. Unsere Veranstaltertätigkeit ging mit der Konferenz des „Darmstädter Jazzforums“ los, das wir 1991 zum ersten Mal ausrichteten. Dann kamen 1992 die Jazz Conceptions hinzu, ein jährlicher Workshop, eine Idee des Darmstädter Kontrabassisten Jürgen Wuchner, und dann bezogen wir 1997 das Bessunger Kavaliershaus, in dem wir einen eigenen Konzertraum hatten. Da wurden wir dann plötzlich auch zu einem Club.
nmz: Dieses Haus ist nicht nur ein Symbol, auch ein lebendiger Ort für den Jazz …
Knauer: Das hoffen wir. Es berührt mich nach wie vor, dass eine Stadt, die im Krieg komplett zerstört wurde, eines ihrer historischen Gebäude dem Jazz widmet. Ich erinnere mich, wie George Gruntz, der für eines unserer Jazzforen vor Ort war, Tränen in den Augen hatte, als er die Wettertrompete auf unserem Domizil sah.
nmz: Wissenschaftsstadt Darmstadt, Jazzforschung – Sie haben schon ein paar Stichworte gegeben. Warum ist denn die Jazzforschung eine Jazzforschung und nicht eine Musikforschung? Oder eine Jazzwissenschaft und keine Musikwissenschaft?
Knauer: Ich denke, Jazzforschung ist sehr wohl Teil der Musikwissenschaft, sie wird nur hier in Deutschland nicht so oft an musikwissenschaftlichen Instituten betrieben. Ekkehard Jost an der Uni in Gießen war die große Ausnahme. Er brachte die Jazzforschung in die systematische Musikwissenschaft mit ein. Es gibt in der Zwischenzeit immerhin ein paar Institute, an denen auch Jazzforschung betrieben wird, aber insbesondere in der historischen Musikwissenschaft fristet der Jazz hierzulande nach wie vor ein Nischendasein.
nmz: Was ist da die Position des Jazzinstituts?
Knauer: Wir sehen uns vor allem als Ermöglicher von Forschung. Da ist das Darmstädter Jazzforum, das wir seit 1991 themenbezogen alle zwei Jahre ausrichten. Wir laden Wissenschaftler*innen und Journalist*innen unterschiedlichster Fachgebiete ein und ermuntern zu einem Diskurs, an dem wir insbesondere auch die Musikerinnen und Musiker beteiligt sehen wollen. Das letzte Jazzforum ist ein gutes Beispiel, bei dem wir uns über das Politische im Jazz unterhielten. Diese Mischung aus wissenschaftlicher Tiefe und einer Diskussion, in der man sich trauen kann, auch mal was zu sagen, ohne dafür gesteinigt zu werden: Das ist etwas, das wir vielleicht besser leisten können als die eine oder andere Hochschule. Nachzulesen übrigens in mittlerweile 16 Bänden unserer Buchreihe „Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung“.
nmz: Sind Sie denn glücklich mit dem Begriff „Jazz“?
Knauer: Ich bin da ganz emotional: Für mich ist Jazz die Musik, für die mein Herz, meine Ohren brennen. Ich mag den Begriff, aber ich weiß natürlich um seine Problematik, vor allem in den USA, wo hinter der Benennung des Genres immer auch die Diskussion darüber mitschwingt, wer die Deutungshoheit über die Musik hat.
nmz: Nochmal zum Haus: Wie ist das Institut in den drei Jahrzehnten personell gewachsen?
Knauer: Wir sind zu dritt. Neben mir ist Doris Schröder, von Haus aus Kunsthistorikerin, mit den visuellen Teilen der Sammlung befasst und hat mittlerweile zahlreiche Ausstellungen kuratiert. Wir haben eine kleine Galerie eingerichtet, die sich vor allem an ein Publikum aus der Rhein-Main-Region richtet. Doris sorgt außerdem dafür, dass die riesige Foto- und Filmsammlung in Schuss bleibt und dass man an all das Material auch herankommt. Arndt Weidler hat einen Hintergrund als Soziologe. Er verantwortet die vielen Veranstaltungen und ist außerdem ein bisschen das kulturpolitische Gesicht des Jazzinstituts. Im Rahmen der Lobbyarbeit, die wir eben auch treiben, war Arndt beispielsweise Ansprechpartner für die Jazzstudie, die wir 2016 zusammen mit der Deutschen Jazzunion in Auftrag gaben und betreuten. Neben diesen beiden haben wir noch eine Reihe an ehrenamtlichen Mitarbeitern, die uns vor allem bei der Archivarbeit helfen.
nmz: Habt Ihr die Grenzen des Wachstums damit schon erreicht?
Knauer: Personell würden wir natürlich gern aufstocken. Aber als städtische Einrichtung haben da unser Kulturdezernent und der Stadtkämmerer das Sagen.
nmz: Sie machen das alles jetzt seit 30 Jahren. Denken Sie als städtischer Mitarbeiter auch an Ihre Nachfolge?
Knauer: Natürlich, und ich wünsche mir, dass meine Nachfolgerin oder mein Nachfolger dieselben Freiheiten haben wird und nutzen kann, die ich die letzten 30 Jahre hatte. Es ist wirklich eine große Ehre hier zu arbeiten, und daneben auch eine große Chance.
nmz: 30 Jahre Aufbau, Ausbau, Leitung des Instituts und es zukunftsfähig machen: Das nennt man wirklich Kontinuität. Haben Sie niemals Lust verspürt, etwas anderes zu machen?
Knauer: Ganz ehrlich: nicht wirklich. Mir war immer bewusst, welche unglaublichen Gestaltungsfreiheiten ich hier in Darmstadt hatte. Wir durften ja selbst bestimmen, welche Projekte wir realisieren wollten; der einzige Termindruck, den wir verspürten, stammte von uns selbst. Und natürlich macht das alles auch deshalb Spaß, weil wir wissen, dass den Entscheidungsträgern in der Stadt bewusst ist, welchen internationalen Ruf das Jazzinstitut besitzt, weil wir den Stolz der Stadtgesellschaft auf ihr Jazzinstitut immer wieder zurückgespiegelt bekommen.
nmz: Wie steht es heute wirklich um den Jazz? Wie hat er sich gewandelt?
Knauer: Ich sehe im Jazz nach wie vor die Forschungsabteilung der zeitgenössischen Musik, in der Dinge recherchiert werden, in der man auch mal Fehler machen darf, die aber immer zu Neuem führen können – denn das gehört zum Experiment dazu. Im Jazz spiegeln sich viele der aktuellen gesellschaftlichen wie ästhetischen Diskurse unserer Zeit, genau deshalb ist er für mich eine aktuelle und damit wichtige Kunstform. Das Schicksal, dass nämlich Jazz nach wie vor von verhältnismäßig wenigen Menschen gehört wird, teilt er sich übrigens mit jeder anderen Form von Avantgarde. Politisch wird der Jazz in Deutschland übrigens weit stärker wahrgenommen. Das ist den Musikerinnen und Musikern und all den anderen Akteuren auf diesem Gebiet zu verdanken, die erkannten, wie wichtig es ist, für diese Musik eine Lobby zu bilden. Die Aktivitäten der Bundeskonferenz Jazz, die Gründung der jazzahead!, das Wiedererstarken der Deutschen Jazzunion, die Diskussionen um das House of Jazz in Berlin: Der Jazz wird ganz allgemein auf kulturpolitischer Ebene stärker wahrgenommen als noch vor 20 Jahren. Da ist also etwas in Bewegung. Und etwas Besseres kann einer Kultursprache wie dem Jazz doch gar nicht passieren.