Wie die Made im sprichwörtlichen Speck? Ein bisschen gewagt ist dieses Bild für den Landesmusikrat Baden-Württemberg. Auch wenn man sich dort im Vergleich zu anderen Bundesländern recht gut gepolstert mit Fragen der Musikpolitik oder der Kinder- und Jugendbildung auseinandersetzen kann. Prof. Dr. Hermann Wilske, der seit Juni amtierende Präsident des Landesmusikrates Baden-Württemberg, ist sich dieser privilegierten Situation bewusst, denkt jedoch nicht daran, den Dingen ihren kulturpolitischen Lauf zu lassen. Mit ihm sprach Susanne Fließ über Theorie und Praxis des Lehrbetriebs, glückliche Menschen auf schwäbischen Tanzböden und musikpädagogische Mogelpackungen.
neue musikzeitung: Herr Prof. Wilske, seit Juni 2011 sind Sie Präsident des Landesmusikrates Baden-Württemberg, davor bekleideten Sie das Amt zehn Monate kommissarisch. Wie haben Sie diese Zeit des Übergangs genutzt?
Hermann Wilske: Ich habe diese Zeit genutzt, um eine Bestandsaufnahme zu machen. Aber im Grunde bin ich ins kalte Wasser gesprungen und beherzt losgeschwommen. Mein Vorgänger Wolfgang Gönnenwein hat mir in dieser ersten Zeit mit Rat zur Seite gestanden, viele Dinge haben wir in enger Abstimmung miteinander vorangetrieben. Es ist ja zunächst keine leichte Aufgabe, solch einer charismatischen Figur nachzufolgen. Er hat das Musikleben in Baden-Württemberg mitbegründet und maßgeblich gestaltet.
nmz: Welches war Ihr erstes Projekt, das Sie sich vorgenommen haben?
Wilske: Zu den Projekten, die uns allerdings schon länger beschäftigen, gehört die Diskussion um den sogenannten Fächerverbund „Mensch, Natur und Kultur“ in der Grundschule. Dazu hat der Landesmusikrat eine Studie in Auftrag gegeben, in der dieser Fächerverbund in Kombination mit dem Fach Musik insgesamt eher negativ bewertet wird. Jetzt hat uns die neue Regierung signalisiert, dass über neue Modelle nachgedacht wird.
Meine größte Baustelle betrifft jedoch die berufsbildenden Gymnasien. Noch vor 15 Jahren machte dort nur ein relativ geringer Teil Abitur. Aktuell aber kommen fast 33 Prozent aller Abiturienten in Baden-Württemberg aus den berufsbildenden Gymnasien. Wenn man bedenkt, dass von diesen 18.000 Abiturienten nur drei Prozent Musikunterricht erhalten haben, in einem Bundesland, das sich selbst „Musikland“ nennt, dann besteht hier dringender Handlungsbedarf, und umfassende Konsequenzen sind nötig. Denn eines ist klar: Diese 97 Prozent ohne Musikunterricht werden in aller Regel später zu Multiplikatoren in der Gesellschaft, ohne kulturelle Bildung genossen zu haben. Das ist nicht hinnehmbar.
nmz: Um hier etwas zu verändern, braucht es kurze Wege in die Ministerien.
Wilske: Sie dürfen nicht vergessen, ich war mehr als zehn Jahre Vorsitzender des Verbands Deutscher Schulmusiker in Baden-Württemberg. In dieser Zeit hatte ich viele Kontakte, kenne die Gemengelage ziemlich gut und nutze Verbindungen, die ich über Jahrzehnte aufgebaut und gefestigt habe.
nmz: Sie sind Lehrer an einem Gymnasium, gleichzeitig haben Sie einen Lehrauftrag für Musikpädagogik an der Musikhochschule in Trossingen. Theorie trifft auf Praxis. Eine schmerzhafte Begegnung?
Wilske: Ganz im Gegenteil – eher eine unverzichtbare. Ich halte es für einen an der Musikhochschule Lehrenden nicht nur für wichtig, die Realität der Schulmusik in der täglichen Unterrichtspraxis zu erleben. Ich halte das sogar für ein Modell, das auch an anderen Musikhochschulen eingeführt werden sollte. Musikpädagogik ist eine empirische Wissenschaft, und der Eindruck des praktischen Lehrens kann letztlich durch keine theoretischen Studien ersetzt werden.
nmz: Sie erleben die Defizite der Musikausbildung als Gymnasiallehrer. Werden Ihnen aus anderen Schulformen noch traurigere Wirklichkeiten zugetragen?
Wilske: Was den Musikunterricht betrifft, ist die Situation an den Gymnasien in Baden-Württemberg vergleichsweise gut. Die größeren Defizite sind an den eben genannten berufsbildenden Gymnasien, an den Grundschulen und insbesondere an den Hauptschulen zu finden. Um diese Erfahrungen zu bündeln und gegenzusteuern, haben wir im Landesmusikrat einen musikpädagogischen Ausschuss einberufen, in dem Lehrkräfte aller Schularten und auch der Hochschulen vertreten sind.
nmz: Ist das Bildungsziel also zumindest für die Gymnasien erreicht?
Wilske: Das Ideal des großen Musikpädagogen Leo Kestenberg bestand ja nicht nur darin, an den Gymnasien durchgängig zweistündig Musikunterricht anzubieten. Alle Kinder, vom Kindergarten bis zum Gymnasium, sollten mit Bildungsangeboten in Musik erreicht werden. Jeder Reformansatz muss daher aus meiner Sicht versuchen, dieser Prämisse gerecht zu werden. Auf alles, was im vorschulischen Bereich an Kenntnissen und Fähigkeiten angelegt wird, könnte in der Grundschule und allen weiterführenden Schularten aufgebaut werden. Was wir also bräuchten, ist ein Kontinuum des aufbauenden Lernens durch alle Schularten hindurch. Wir haben in Baden-Württemberg einen hervorragenden Orientierungsplan „Kindergarten“, der so viel Musik enthält, wie ich es aus keinem anderen Bundesland kenne. Ich hoffe nur inständig, dass die neue Landesregierung auch die finanziellen Mittel bereitstellt, um diesen Plan umzusetzen. Dann hätten wir hier einen wichtigen Schritt getan, um dem größten Manko des Musikunterrichts zu begegnen: Viel zu oft muss Musikunterricht an Schulen stets von neuem beginnen, voraussetzungslos unterrichtet werden.
nmz: Haben Sie Bedenken, dass die neue Landesregierung weniger dazu bereit ist?
Wilske: Ich bin angenehm überrascht, wie offen wir einander begegnen. Und in aller Nüchternheit muss man auch konstatieren, dass die vorher über ein halbes Jahrhundert regierende alte Regierung einerseits für die Kultur Vorbildliches getan hat, es aber andererseits in den letzten Jahren auch Erstarrungen und Verkrustungen gab. Insofern traue ich der neuen Landesregierung sehr viel zu.
nmz: Die Ziele, die der Landesmusikrat bei der Kinder- und Jugendbildung oder der Musikausbildung formuliert, sind fraglos wichtig, drängend und sinnvoll. Etwas anders hätte man von einer Institution wie dieser aber auch nicht erwartet. Überraschend ist jedoch eine Initiative zur Bewahrung der Volksmusik. Was steckt dahinter?
Wilske: Oft ist es so, dass sich Landesmusikräte vor allem der Hochkultur verpflichtet fühlen. Dieses Ziel verfolge ich nicht. Es gibt hier, vor allem im ländlichen Bereich, eine Volksmusik, die in den letzten 50 Jahren fast untergegangen ist. Deren Pflege ist mir wirklich ein Herzensanliegen. Der sehr rührige Arbeitskreis „Volksmusik“ im Landesmusikrat Baden-Württemberg verleiht beispielsweise die Plakette „Musikantenfreundliches Wirtshaus“. Ich habe schon mehrmals an solchen Verleihungen teilgenommen und muss sagen, dass ich selten so viele glückliche Menschen getroffen habe wie bei diesen Konzerten in den Wirtshäusern mit ihren Tanzböden. Spitze und Breite gehören untrennbar zusammen, das gilt in Sonderheit für Baden-Württemberg. Die Musik hält das Land in seinem Innersten zusammen und prägt es: Selbst noch in kleineren Orten gibt es einen Kirchenchor, einen Gesangsverein, eine Volksmusikgruppe, einen Posaunenchor, manchmal sogar ein Orchester.
nmz: Verglichen mit anderen Bundesländern geht es Baden-Württemberg beinahe in jeder Hinsicht blendend. Die Dinge, die Sie anmahnen, beklagen Sie auf einem vergleichsweise hohen Niveau. Eigentlich könnten Sie die Hände in den Schoß legen.
Wilske: Oh nein! Ich habe eingangs ja dargestellt, dass es sehr wohl noch unbehauste Regionen im Musikland Baden-Württemberg gibt. Und schließlich gilt auch: Je mehr Musik es in einem Land gibt, umso zufriedener, ja glücklicher sind die Menschen, die darin leben. So gesehen bleiben noch unübersehbare Aufgabenfelder für Generationen von Landesmusikräten in Baden-Württemberg.
nmz: Stoßen Sie denn mit den Themen aus Baden-Württemberg bei Ihren turnusmäßigen Landesmusikrats-Treffen überhaupt auf Verständnis?
Wilske: Aber ja. So groß sind die Unterschiede zu anderen Bundesländern ja nun auch nicht, auch dort gibt es positive Entwicklungen, an denen wir uns orientieren. Auf Initiative von Baden-Württemberg und Bayern werden die Landesmusikräte übrigens in Kürze ein Schwarzbuch herausgeben mit dem Titel „Musikalische Bildung in Deutschland“. Darin wird zu lesen sein, wo bundesweit die Stärken und Schwächen liegen. Damit können wir ganz offen der Politik gegenüber Defizite benennen und erst einmal überhaupt eine Basis schaffen, damit man weiß, worüber man überhaupt spricht. Und zusammen mit dem Deutschen Musikrat haben wir schon im letzten Jahr eine Initiative in die Kultusministerkonferenz eingebracht, um eine Verbesserung der Musikerziehung an den Grundschulen zu erreichen.
nmz: Sie setzen in Ihren Überlegungen bei der Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern in Kindergärten an. Was muss hier geschehen?
Wilske: Die Ausbildung für Erzieherinnen ist in Baden-Württemberg auf sehr viele Träger verteilt. Wenn man etwas erreichen möchte, reicht es nicht, sich mit dem Kultusministerium einig zu sein, alle andern Träger wie Arbeiterwohlfahrt oder kirchliche Träger müssen ebenfalls ins Boot geholt und in die Finanzierbarkeit einbezogen werden. Deshalb sind langfristige Verbesserungen sehr schwierig. Das größte Hindernis ist aber, dass sich eine Erzieherin im Verlauf ihres Studiums häufig an der Musik quasi vorbeimogeln kann. Diesen unhaltbaren Zustand muss man so schnell wie möglich abstellen. Pädagogische Tätigkeit ohne Musikausbildung darf es im Kindergarten nicht geben. Auffallend ist übrigens, dass die Erzieherinnenausbildung in den anthroposophischen Ausbildungsstätten in vielerlei Hinsicht vorbildlich ist. Vieles von dem könnte man durchaus auf die Ausbildungen in anderen Trägerschaften übertragen.
nmz: Welche Hoffnung haben Sie, wenn man zwar alle Entscheider inhaltlich überzeugen kann, aber für alle diese Reformen immer wieder Geld in die Hand nehmen muss, was immer weniger zur Verfügung steht?
Wilske: Ich bin, für Sie vielleicht überraschend, positiv gestimmt, was die Zukunft in Baden-Württemberg betrifft, nicht nur mit Blick auf die Kindertagesstätten, sondern insgesamt. Seien wir ehrlich – in Bildung wird doch vergleichsweise viel mehr investiert als noch vor Jahren. Die neue Kultusministerin hat beispielsweise in Aussicht gestellt, dass das G8 und das G9 wieder parallel laufen könnten. Speziell bei den 38 Gymnasien mit Musikprofil würde ein neunjähriger Zug einen beachtlichen Korridor für Übezeiten der Schüler schaffen und auch den vielen Musikvereinen und Musikschulen in Baden-Württemberg zugutekommen.
nmz: Der Landesmusikrat formuliert als eine seiner Aufgaben auch die Planung neuer kulturpolitischer Aktivitäten. Gibt es darüber schon etwas zu berichten?
Wilske: In der Tat, und das gilt insbesondere für die Rolle der Musik bei Integrationsaufgaben: Wir haben als drittes Bundesland das Instrument Baglama, ein türkisches Saiteninstrument, in den Wettbewerb „Jugend musiziert“ eingeführt. Wir sehen das als einen ersten wichtigen Beitrag zur Integration, dem weitere folgen müssen. Sodann wollen wir, nach dem Vorbild von Rheinland-Pfalz, etwas für die Musik in den Kinderhospizen tun. Jeder, der einmal ein solches Hospiz besucht hat, weiß, welch immensen Beitrag Musik hier leisten könnte. In aller Stille.