Seit den ersten Bauarbeiten im Herbst 2002 hat die neue musikzeitung im Rahmen einer Medienpartnerschaft die Entstehung der Philharmonie Essen aufmerksam verfolgt. Kulturpolitische Aspekte, Architektur und Akustik, sowie das Entstehen des ersten Jahresprogramms und dessen Vermarktung wurden von unterschiedlichen Autoren vorgestellt. Inzwischen hat die Philharmonie ihr erstes Jahr hinter sich, Zeit für Resümee und Ausblick.
Neben einem ausführlichen Interview mit dem Intendanten Michael Kaufmann beleuchtet diese Ausgabe auch die größeren kulturellen und kulturpolitischen Zusammenhänge in der neu entstandenen „Kulturmetropole Ruhrgebiet“. Auf den folgenden sechs Seiten finden Sie Beiträge über die Philharmonie Essen, das Konzerthaus Dortmund, die RuhrTriennale und zur Kulturpolitik in Essen und Dortmund.
neue musikzeitung: Nach spannenden Jahren des Auf- und Umbaus haben Sie nun das erste Bespielungs-Jahr der Essener Philharmonie hinter sich. Sie haben in den Vorbereitungsjahren – neben den inhaltlichen Schwerpunkten – großen Wert auf das richtige „Marketing“ gelegt. Also: ein anspruchsvolles Programm zu machen und trotzdem Publikum anzulocken. Das ist auch nötig, denn der ehemalige Saalbau fasst 2.000 Leute und will gefüllt sein. Sind Sie mit der Auslastung im ersten Jahr zufrieden?
Michael Kaufmann: Wahrscheinlich ist man als Veranstalter nie zufrieden, wenn das Haus nicht wirklich voll ist. In Anbetracht des Angebotes, das es im Ruhrgebiet und speziell hier im mittleren Ruhrgebiet gibt, bin ich insgesamt schon zufrieden. Aber die Zahl der Kartenverkäufe darf sich schon noch weiter nach oben entwickeln. Ich glaube, wir haben es für das erste Jahr ganz gut hingekriegt, aber es ist schon möglich und auch notwendig, die Besucherzahlen zu steigern, und daran werden wir auch arbeiten.
nmz: Können Sie da Zahlen nennen?
Kaufmann: Wir hatten in der ersten Spielzeit, wenn man den Eröffnungs-Zauber dazu rechnet, 265.000 Besucher. Ohne den Eröffnungs-Zauber waren es 215.000. Bei ungefähr 180 Veranstaltungen im Großen Saal und 70 im RWE-Pavillon, der ja nur 350 Plätze hat, gibt das einen guten Schnitt. Ich denke, dass wir mittelfristig – in den nächsten drei oder vier Jahren – pro Spielzeit auf ungefähr 300.000 Besucher kommen sollten.
nmz: Sie haben von Anfang an besonderen Wert darauf gelegt, neue Publikumsschichten anzusprechen: Kinder, Jugendliche und solche Menschen, die bisher keine Konzertsäle besuchen. Glauben Sie, dass dies gelungen ist?
Kaufmann: Zum Teil auf jeden Fall. Die Ansätze sind ganz eindeutig positiv. Beim Frank-Zappa-Projekt zum Beispiel mit dem Ensemble Modern waren erkennbar Besucher im Haus, die sonst nicht in die Philharmonie kämen. Auch bei unseren Jazzkonzerten kann man ein Publikum beobachten, das nicht traditionell ein Konzerthauspublikum ist. Und im Sommer, als zwei Wochen „Stomp“ gespielt wurde, hatten wir ganz eindeutig ein anderes Publikum als bei den klassischen Konzerten, insbesondere im Vergleich zum Abo-Publikum der Essener Philharmoniker. Da glaube ich, kann man schon die ersten guten Ergebnisse unserer Arbeit sehen. Aber wir befinden uns in einem ziemlich starken Wettbewerb mit all den alternativen Spielstätten, die es gibt. Ob es nun der Landschaftspark Duisburg oder die Zeche Zollverein ist.
nmz: Sie haben viel über Ihre Werbung, teilweise auch unkonventionelle Werbung, nachgedacht. Gelingt es dadurch, neues Publikum für „alte Programme“ zu gewinnen? Sprich: auch ein neues Publikum in Sinfoniekonzerte zu bekommen, durch attraktive Werbung oder besondere Formen der Vermittlung?
Kaufmann: Das glaube ich ganz sicher. Man kann das sehen, wenn man in die Konzerte zum Beispiel der Essener Philharmoniker, die einfach ihr traditionelles Abo-Publikum haben, oder in die Konzerte von Pro Arte geht, die ja früher schon eine Konzertreihe in Essen veranstaltet haben. Bei unseren Konzerten gibt es da durchaus einen anderen Altersdurchschnitt. Und da spielt sicher unsere Bewerbung eine Rolle: Sie vermittelt einen unkomplizierten Eindruck.
Was aber ganz wichtig ist: Wenn wir nur einen frischen und frechen Werbeauftritt hätten oder intensives Marketing betreiben würden, würde das nicht ausreichen, um auch erfolgreich zu sein. Wenn man sich aber zum Beispiel unseren Beethoven-Zyklus anguckt, der erste vollständige Beethoven-Zyklus in historischer Aufführungspraxis, dann sieht man viele jüngere Leute im Konzert. Da spielt auf jeden Fall die Werbung eine Rolle, andererseits aber auch die Tatsache, dass die Werbung zu der zupackenden Art des Musizierens und Musikmachens passt. Damit können junge Menschen meist mehr anfangen als mit der Routine „Klassiker“. Für jüngere Leute ist es wichtig, dass sie an einem außergewöhnlichen, einem authentischen Ereignis teilgenommen haben. Und das gilt nicht nur für New York Philharmonic oder für Anne Sophie Mutter, sondern auch für das ganz normale Programm.
nmz: Zum Programm: Sie hatten angekündigt, eine Mischung aus großer Weltkultur und regionaler Kultur anzubieten. Haben Sie das durchgehalten?
Kaufmann: Das glaube ich schon. Wenn das Haus neu ist, dann probiert man unterschiedliche Dinge aus und stellt fest, was geht und was nicht geht. Wir sind da auf einem guten Weg, gerade auch, was Kooperationen betrifft. Neben auf Mehrjährigkeit angelegten Kooperationen wie mit den Bochumer Symphonikern haben wir etwa mit dem Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen und mit der Folkwang Hochschule, mit der wir ja permanent zusammenarbeiten, gemeinsam ein Projekt durchgeführt, bei dem 14 Tage lang ein indischer Guru und Musiklehrer mit seiner kompletten „Mannschaft“ in einem interkulturellen Lehr- und Lernprojekt mit Studenten und Professoren der Folkwang Hochschule gearbeitet hat. Bei uns hat dann ein Abschlusskonzert stattgefunden. Ich finde Kooperationen mit professionellen Partnern wichtig um sich sozusagen strategisch zu ergänzen und damit die eigene Leistungsfähigkeit zu steigern – im Interesse der Künstler und des Publikums.
nmz: Sie standen und stehen für eine Offenheit gegenüber kulturellen Angeboten der Region. ChorWerk Ruhr und Klavierfestival Ruhr sollten einen festen Platz in der Philharmonie bekommen, die RuhrTriennale findet überall statt. Auch für Kooperationen mit dem Konzerthaus Dortmund waren Sie aufgeschlossen. Was ist von diesen Plänen geblieben? Sind Sie gegen Wände oder eher auf Interesse gestoßen?
Kaufmann: Ich denke, wenn man neu als Veranstalter in so eine unglaublich vital bespielte Region kommt, dann ist es geradezu unvermeidlich, dass man sich überlegt, mit wem man Projekte oder Dinge gemeinsam machen kann. Das geht im einen Fall ein bisschen schneller und leichter, im anderen Fall ist es ein bisschen komplizierter. Wir haben zum Beispiel mit dem Klavierfestival ganz wunderbare Dinge zusammen gemacht und gemeinsam mehr erreicht, als jeder für sich hätte erreichen können. Mit der RuhrTriennale war es bisher eher schwierig. Das liegt auch an der grundsätzlichen Ausrichtung der Triennale und vielleicht auch an dem Grundverständnis, dass sie sich nicht unbedingt als Kooperationspartner der vor Ort befindlichen Anbieter versteht, sondern als ein eigenständiges Festival. Das verstehe ich zum großen Teil auch, und ich finde es richtig, dass die Triennale ein eigenes Profil findet. Manchmal würde ich mir wünschen, mit der Triennale etwas zu machen – aber es ist auch nicht dramatisch, wenn es nicht passiert. Das, was alle am meisten erwartet haben, die Kooperation mit dem Konzerthaus in Dortmund, ist noch nicht wirklich gelungen. Das finde ich schade, aber ich muss wohl auch akzeptieren, dass zwei Häuser, die beide relativ jung und neu sind, erst mal ihr eigenes Profil definieren müssen, bevor sie zusammen arbeiten. In einer Situation, in der alle anderen darüber reden, dass wir Wettbewerber sind, sollen wir plötzlich Kooperationspartner sein! Worüber ich wirklich sehr glücklich bin, ist, dass die Orchester, ob in Duisburg, Dortmund oder Bochum, sich von uns gern auch mit gezielten Programmwünschen einladen lassen, so dass wir eigene programmatische Linien mit diesen tollen Klangkörpern der Region entwickeln können. Das hat nicht nur beim Schönberg-Festival funktioniert, sondern setzt sich in der nächsten Spielzeit fort: In unserer dritten Spielzeit wird Mauricio Kagel „Artist in Residence“ sein und daran werden sich die Orchester aus Duisburg und Dortmund beteiligen. Und mit den Bochumern sind wir sowieso mit dem Mahler-Zyklus eine mehrjährige Kooperation eingegangen.
Oder, um noch ein anderes Beispiel zu nennen: Hier in Essen gibt es seit vielen Jahren die Reihe „Jazz in Essen“, die vom Kulturamt gefördert wird, die aber inhaltlich eigenständig ist. Auch mit denen machen wir jetzt Konzerte und Projekte zusammen. Und wenn ich darüber nachdenke, welchen Jazzer wir „in Residence“ nehmen, dann rede ich mit denen. Das empfinde ich als eine tolle Situation. Ich bin zwar jemand, der Entscheidungen durchaus auch gerne selber trifft, aber ich muss es nicht, wenn ich weiß, dass ich tolle Partner um mich herum habe.
nmz: Wenn Sie eine Gesamtbilanz für das erste Jahr ziehen: Ist es Ihnen gelungen, ein eigenes Profil für das Haus zu entwickeln?
Kaufmann: Ich würde auf jeden Fall sagen: Ja. Das Haus hat ein erkennbares Gesichtentwickelt. Es ist sowohl für Künstler als auch für das Publikum und das Medienumfeld wahrzunehmen als ein Haus, das zwar viele Dinge so macht wie jedes andere Konzerthaus, das aber durchaus auch in der Lage ist, Schwerpunkte zu setzen, die sich von anderen Häusern unterscheiden. Es ist mir sehr wichtig, dass wir die Musik vielfältiger wahrnehmen und präsentieren, als das in vielen anderen Häusern der Fall ist. Ich glaube, dass viele Menschen in der Stadt auch diese Wahrnehmung zu dem Haus haben, selbst, wenn sie noch nicht drin waren. Die große Wertschätzung, die unsere Arbeit erfährt, ist ganz wichtig, denn in den ersten drei bis fünf Jahren warten sicher noch ein paar Stürme auf uns. Der eine oder andere, der sich bisher mit kritischen Fragen zurückgehalten hat, wird vielleicht noch aus der Reserve kommen. Da ist es wichtig, dass man eine grundsätzliche Verankerung des Hauses und seines vielgesichtigen Profils schafft und nicht wie ein kleines Schiffchen auf großer See hin- und hergerissen wird.
nmz: Zum Konzept des Hauses gehört auch die Fremdvermietung. Wird das zu Ihrer Zufriedenheit angenommen?
Kaufmann: Im ersten Jahr muss man damit sehr zufrieden sein. Ich bin sehr froh darüber, dass wir insgesamt drei Abo-Reihen privater Veranstalter haben, aber auch viele Einzelbuchungen, von Nigel Kennedy bis Herman van Veen oder Klaus Hoffmann. Aber auch da kann man natürlich noch besser werden.
nmz: Die Akustik hat im Vorfeld für Aufsehen gesorgt, weil sie als besonders herausragend angekündigt wurde. Da gibt es viele begeisterte Stimmen, aber auch einige Kritiker. Gibt es da Nachbesserungsbedarf, oder ist alles so, wie Sie es sich vorgestellt haben?
Kaufmann: Ich kenne nur einen einzigen Menschen, der die Akustik nicht für gut hält. Der hat zufälligerweise die Macht des Bleistifts, schreibt für unterschiedliche Presseorgane und verbreitet immer wieder die Nachricht, dass die Akustik nicht gut sei. Ich kann das wirklich nicht nachvollziehen!
Alle Menschen, egal ob im Publikum oder auf der Bühne, sind von der Akustik begeistert. Sie ist sehr klar und transparent. Das macht es hin und wieder bei beschallten Konzerten oder bei Sprachbeschallung schwierig, weil dann relativ viel von dem verstärkten Schall von den Wänden zurückkommt. Aber alles, was mit natürlicher Akustik zu tun hat, sei es ein Liederabend oder ein großes Sinfoniekonzert: da gibt es keinen Nachbesserungsbedarf. Im Gegenteil: Ich freue mich sehr über unsere Akustik.
nmz: Wie stehen Sie – in Zeiten knapper Kassen – mit Ihrem Haus finanziell da?
: Ich bin sehr froh und auch ein wenig stolz darauf, dass wir nicht nur im Rahmen unseres Wirtschaftsplanes geblieben sind, sondern sogar 250.000 Euro aus dem Wirtschaftsplan der ersten Spielzeit nicht ausgeschöpft haben.
nmz: Was machen Sie mit den 250.000 Euro? Dürfen Sie die behalten?
Kaufmann: Ich fürchte, die Stadt wird sie einbehalten. Der Kampf wird sein, dass wir nicht in Zukunft grundsätzlich weniger Geld bekommen, sondern dass man uns so weiterarbeiten lässt.
nmz: Wie ist Ihre Perspektive für die nächsten Jahre?
Kaufmann: Sicher gemischt. Künstlerisch hat das Haus eine wunderbare Zukunft vor sich. Es hat sich gut aufgestellt, und unsere Planungen machen sehr viel Lust, die Spielzeiten, die wir bereits geplant haben, auch zu erleben. Andererseits liegt noch viel Arbeit vor uns. Insbesondere geht es darum, die Region stärker zu erobern und die Menschen vor allem zwischen Düsseldorf und Bochum zu gewinnen, die nicht über die Tageszeitung mitkriegen, was wir tun. Aufgrund dessen, was wir bisher schon erreicht haben, können wir aber mit Optimismus und Freude in die Zukunft blicken.