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Seit September 2019 im Leipziger Schumann-Haus zu sehen: die Dauerausstellung „Experiment Künstlerehe“, kuratiert von Beatrix Borchard, siehe dazu auch nmz 9/2019. Foto: Andreas Schmidt
Seit September 2019 im Leipziger Schumann-Haus zu sehen: die Dauerausstellung „Experiment Künstlerehe“, kuratiert von Beatrix Borchard, siehe dazu auch nmz 9/2019. Foto: Andreas Schmidt
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Etablierung, Verantwortung, Gegenwind

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Ein Gespräch zum Thema Frauen- und Genderforschung in der Musik
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Seit Ende der 1970er Jahre haben Musikwissenschaftlerinnen maßgeblich dazu beigetragen, die Bedeutung von Frauen in der Musikgeschichte sichtbar und hörbar zu machen. Wie sich das Fach der musikalischen Frauen- und Genderstudies seither entwickelt hat und wie Forscherinnen deren Aufgaben heute definieren, darüber hat Juan Martin Koch mit drei Vertreterinnen gesprochen:

Susanne Rode-Breymann ist Präsidentin der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover, leitet dort das vor 15 Jahren gegründete Forschungszentrum Musik und Gender und ist Vorsitzende der Rektorenkonferenz der deutschen Musikhochschulen (RKM); Anna Ricke ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Musikwissenschaftlichen Seminar Detmold/Paderborn, einer gemeinsamen Einrichtung der Universität Paderborn und der Hochschule für Musik Detmold; Magdalena Waller ist Bildende Künstlerin und Kulturmanagerin und hat als Mas­terarbeit am Institut für Kulturmanagement der Hochschule für Musik und Theater München „Die Zusammensetzung der Jurys beim Wettbewerb ‚Jugend musiziert’ in Hinblick auf Geschlechtergerechtigkeit“ untersucht. Der Mitschnitt des Gesprächs ist auch auf www.nmz.de/media und als Audio (Download) verfügbar.

neue musikzeitung: Zunächst eine allgemeine Frage in die Runde: Wann und wie kamen Sie mit dem Thema Frauen- und Genderforschung in Kontakt?

Susanne Rode-Breymann: Ich kam schon während meiner Dissertation damit in Kontakt, weil ich über Alban Berg und Karl Kraus am Beispiel der „Lulu“ promoviert habe, wo man sich mit einer zentralen Frauenfigur beschäftigt. Das habe ich damals aber gar nicht wirklich bemerkt. Das Interesse hat sich in meiner Zeit in Thurnau am Opernforschungsinstitut der Universität Bayreuth sehr aktiviert. Bei der Beschäftigung mit Opern hat man natürlich immer mit Geschlechterrollen zu tun und so sind erste Aufsätze entstanden. Das setzte sich dann fort in der Lehrtätigkeit, vor allem an der Kölner Musikhochschule. Wenn man Lehramtsstudierende unterrichtet, dann ist man mitten drin in diesem Thema und da kam auch von den Studierenden das Bedürfnis, das zu thematisieren.

Anna Ricke: Ich hatte den Vorteil, dass an der Universität Bayreuth, an der ich mein Bachelorstudium absolviert habe, die Gender Studies sehr präsent waren. Bis ich damit in direkten Kontakt kam, hat es aber ein wenig gedauert. Ich habe dann eine erste Hausarbeit in dem Bereich geschrieben und gemerkt, wie sich Geschlechterrollen auf die Musik auswirken und umgekehrt. Da hat es mich gepackt und setzte sich während meines Masterstudiums in Köln fort. Wenn man einmal in dem Thema drin ist, kann man auch nicht mehr ohne Genderperspektive forschen. Ich glaube, das geht gar nicht.

Magdalena Waller: Gender Studies haben bei uns am Lehrstuhl keine explizite Rolle gespielt. Der erste Gast zum Thema war dann Cornelie Kunkat, die die Studie zu „Frauen in Kultur und Medien“ des Deutschen Kulturrats von 2016 vorgestellt hat. Die Zahlen zur Unterrepräsentanz von Frauen lagen alle auf dem Tisch und ich habe mir gedacht, da will ich meinen Beitrag leisten. Ich bin mit ihr im Gespräch geblieben, und so kam es dazu, den Wettbewerb „Jugend musiziert“ zu untersuchen.

nmz: Seit 1994 gibt es in der Gesellschaft für Musikforschung eine entsprechende Fachgruppe. Die hieß zunächst „Frauen- und Geschlechterforschung“ und benannte sich 2003 in „Fachgruppe Frauen- und Genderstudien“ um. Welche Entwicklung lässt sich an dieser Umbenennung ablesen?

Rode-Breymann: Darüber haben wir lange diskutiert … Es lässt sich daran ablesen, dass die Forschungsgegenstände sich in dieser Zeit der Etablierung verschoben haben. Man kann früher ansetzen, etwa bei der Gründung des Archivs Frau und Musik Ende der 1970er-Jahre. Diese erste Generation war einerseits sehr emanzipatorisch geprägt, andererseits musste sie erst für uns, die wir später kamen, sammeln und aufzeigen, welche Rolle Frauen, vor allem Komponistinnen überhaupt gespielt haben. Wir hatten wenig Wissen, wenig Quellenmaterial. Diese Pionierinnen haben dafür gesorgt, dass man das überhaupt hörbar machen konnte. Wenn man nur über Komponistinnen arbeitet, kommt man aber in einen Zirkel, denn einen Beet­hoven unter den Frauen gibt es nicht, und man ist in der Qualitätsdebatte. Es ist ja historisch zu begründen, warum Frauen nicht in die Bildungssys­teme kamen und sich deshalb nicht professionalisieren konnten. Das kann man auch nicht mehr aufholen. So kamen dann andere Gegenstände in den erweiterten Blick: Wie waren Frauen an der Musikkultur beteiligt, welche Rolle spielten Interpretinnen? Von mir selbst kam der Blick auf die Orte kulturellen Handelns. Damit waren wir nicht mehr bei einer reinen Frauenforschung, sondern bei der Kategorie Geschlecht. Die Fachgruppe spiegelt also sehr gut, wie die Disziplin in der Breite unterwegs ist, wie die nachkommenden Generationen neue Fragen stellen. Die Popularmusik kommt nun sehr stark herein, Männerforschung ist aufgerufen… Seit 1993 – das ist ein Vierteljahrhundert, da wäre es auch traurig, wenn keine neuen Forschungsfragen kämen.

nmz: Frau Ricke, mussten Sie im Studium bestimmte „Klassiker“ der Frauenforschung lesen? Wie wirkten die Bücher von Eva Rieger („Frau, Musik und Männerherrschaft. Zum Ausschluß der Frau aus der deutschen Musikpädagogik, Musikwissenschaft und Musikausübung“ 1981) oder aus dem englischsprachigen Bereich von Susan McClary  („Feminine Endings“ 1991) oder Marcia Citron („Gender and the Musical Canon“ 1993) auf Sie?

Ricke: Es ist ja immer die Frage, wann man etwas liest und was man zeitgleich liest. Für mich war es so, dass ich die neuere Genderforschung zeitgleich mit den „Standardwerken“ der Frauenforschung rezipiert habe und da haben diese ersten Studien im Vergleich natürlich einen anderen Ton. Es ging verständlicherweise viel darum, was Frauen in der Musikgeschichte erleiden mussten, und auch wenn man heute eher nicht mehr so schreiben würde, war es zweifellos wichtig, diese Ungerechtigkeit, dieses Ungleichgewicht so deutlich zu benennen. Gerade Eva Riegers Buch war da ein Meilenstein. Es enthält ja auch so viele heute noch wichtige Ansätze dahingehend, dass die Musikgeschichte nicht nur eine Abfolge von Komponisten und Kompositionen ist. Musik entsteht nicht einfach als Geniestreich eines einzelnen Schöpfers, sondern ist immer ein Zusammenwirken von verschiedenen Ideen, Einflüssen, von Menschen, die interagieren. Dadurch kommt ja Kreativität zustande.

nmz: Grob verkürzt gesagt, gab es ja zunächst zwei Forschungsansätze: Den einen, der Frauen und ihre Bedeutung für die Musikgeschichte sichtbar machen wollte und überwiegend biografisch ausgelegt war. Da ging es unter anderem darum, bislang ignorierte Quellen auszuwerten. Der andere, durchaus umstrittene Ansatz versuchte, die Wirksamkeit von Genderzuschreibungen in der Musik selbst zu untersuchen, also Altbekanntes unter einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Hat sich der eine oder der andere Ansatz mehr bewährt?

Rode-Breymann: Das hat Eva Rieger ja auch gemacht, die Frage nach einer weiblichen Ästhetik zu stellen. Daran glaube ich überhaupt nicht, das halte ich für eine Sackgasse. Es gibt Typologien, mit denen man in der Filmmusik klarkommt, auch in der Oper mit ihren Personencharakterisierungen, aber eine weibliche Ästhetik entsteht durch Brillen, die wir aufhaben. Wenn, dann müsste man empirisch forschen, anonym hören lassen. Ich denke, da sind es unsere Zuschreibungen, die etwas in Gang setzen. Wir haben immer wieder überlegt, im Jahrbuch „Musik und Gender“, das es ja erfreulicherweise seit 2008 gibt, mal einen Band zu dem Thema zu machen, was Musik­analyse unter Genderkategorien sein könnte. Das Interesse ist da, aber keiner nimmt es so recht in die Hand.

nmz: Stattdessen werden im Jahrbuch „Musik und Gender“ 2020 Themen behandelt wie „Migrantische Musikkontexte“, „Die Rolle von Musik am Beispiel ‚Deutschland sucht den Superstar‘“, „Identitätskonstruktion und genderbasierte Performanz im Rap“, „Gender, Race und Class in der Klassik­industrie“ oder „Sexismus im zeitgenössischen Jazz“. Welche Fragen stellen sich jüngere Forscherinnen, Frau Ricke?

Ricke: Ich glaube, dass es heute weniger darum geht, was noch sichtbar zu machen ist, als darum, wie man es methodisch neu fassen kann. Da kommen durch den Begriff des musikkulturellen Handelns, den Frau Rode-Breymann ja geprägt hat, ganz andere Gegenstände in den Fokus: kleine Gelegenheitsformen statt der großen Gattungen zum Beispiel oder Musikberufe abseits des Komponierens, Musikpädagoginnen, Kapellmeister usw. – Das sind Felder, die historiografisch relativ wenig Berücksichtigung erfahren haben. Da ist viel nachzuholen, um erstens die Musikgeschichte der Vergangenheit umzuschreiben oder wenigstens in vielerlei Hinsicht zu ergänzen und um zweitens aktuelle Phänomene anders zu denken und vielfältiger darzustellen. Damit das Problem gar nicht erst entsteht, dass man in 50 Jahren fragt: Was ist damals eigentlich passiert? – und es geht dann nur wieder um „den großen Komponisten“ oder „das große Werk“.

„Jugend musiziert“ unter der Quotenlupe

nmz: Frau Waller, Sie bezeichnen die Methode Ihrer Studie zur Zusammensetzung der Jugend-musiziert-Jurys als „interdisziplinären und systemtheoretischen Forschungsansatz“. Würden Sie sagen, dass sie trotzdem zur Frauen- und Genderforschung gehört?

Waller: Auf jeden Fall, denn es liegen dieselben Annahmen zugrunde. Die Studie geht davon aus, dass sich aus dem Spannungsfeld zwischen Gen­derstudies, Recht, Politik und Kultur Rückbezüge auf gesellschaftliche Machtverteilung ergeben. Diese Einflüsse bedingen sich gegenseitig, sind zum Teil messbar und können nicht auf ein einziges Argument festgelegt werden.

nmz: Wie kamen Sie auf Ihr Thema, was genau haben Sie untersucht und was waren die Ergebnisse?

Waller: In der Studie von 2016 zu Frauen in Kultur und Medien war ein Ergebnis, dass bei „Jugend musiziert“ als einem der ganz wenigen Wettbewerbe die Gewinnerinnen und Gewinner im Verlauf von zehn Jahren annähernd paritätisch sind. Das hat mich zu der Frage angeregt, ob sich dieses schöne paritätische Ergebnis auch in der Juryzusammensetzung widerspiegelt. Ich habe dann 11.000 Jurymitglieder aus zehn Jahren vom Regional- bis zum Bundeswettbewerb ausgezählt und die Ergebnisse hinsichtlich verschiedener Gesichtspunkte und Einflussgrößen untersucht. Dabei kam heraus, dass die Jurys eben nicht paritätisch zusammengestellt sind. Der Frauenanteil geht im Durchschnitt über 38 Prozent nicht hinaus. Dieser Anteil hat sich über zehn Jahre zwar verbessert, aber durchschnittlich nur um drei Prozent. Ohne aktives Zutun passiert da also wenig. Dadurch, dass der Wettbewerb auf so vielen Ebenen stattfindet, gib es da ganz verschiedene Einflussgrößen. Bemerkenswert ist, dass auf der Bundesebene der Frauenanteil am niedrigsten ist, bei lediglich 30 Prozent. Das wird dann besser im Landeswettbewerb mit 40 und geht im Regionalwettbewerb bis zu 50 Prozent.

nmz: Wobei bestimmte Instrumente abweichen, positiv wie negativ: Sind das dann die Geschlechterstereotype?

Waller: Ja, letztendlich spiegelt das dieselben Verhältnisse wider, wie sie in den Berufsorchestern herrschen, etwa in Form eines massiven Männer­überhangs bei den Blechbläsern.

nmz: Wenn am Ende gleich viel Mädchen und Jungen gewinnen, ist dann die Jurybesetzung nicht egal?

Waller: Man stelle sich vor, was passieren würde, wenn die Jurys paritätisch besetzt wären!  Wichtig ist hier meiner Meinung nach das Thema Sichtbarkeit. Nicht nur das Rollenvorbild einer Horn-Jurorin oder eines Harfen-Jurors, sondern auch im Sinne einer Leuchtturmfunktion von „Jugend musiziert“ als dem größten und wichtigsten Musikwettbewerb.

nmz: In Ihrer Studie formulieren Sie auch Handlungsempfehlungen. Gehört das noch zur Frauen- und Genderforschung?

Waller: Das ist der Kern von Kulturmanagement als Fach, wie ich es verstehe, das an genau dieser Schnittstelle stattfindet zwischen wissenschaftlicher Invention und praktischer Intervention. Genau so müssen die Ergebnisse aufbereitet werden, damit man mit den Verantwortlichen ins Gespräch kommt und den Wettbewerb noch geschlechtergerechter machen kann.

nmz: Ist das zu viel von der Forschung verlangt oder ziehen Sie sich diesen Schuh der gesellschaftlichen Wirkung an, Frau Rode-Breymann, Frau Ricke?

Rode-Breymann: Den ziehe ich mir schon an, ich finde das Prinzip „Invention und Intervention“ gut! So hat ja die erste Generation von Forscherinnen auch gearbeitet, um die Gesellschaft in ihren Verhältnissen zu ändern. Diese Aufgabe haben wir permanent.

Ricke: Nehmen wir das klassische Thema Komponistinnen: Weil sie lange nicht erforscht wurden, sind sie auch erst so spät wiederentdeckt worden. Wenn es zu bestimmten Bereichen der Musikgeschichte keine Literatur, keine edierten Noten gibt, dann sind diese auch nicht präsent. Von daher ist Musikwissenschaft nie unpolitisch, denn sie beeinflusst, was aufgehoben, was für wichtig erachtet wird. Ob man es will oder nicht – Musikwissenschaft hat Einfluss auf das Musikleben.

nmz: In den Jahren ab 2000, so scheint es jedenfalls, hat sich die Frauen- und Genderforschung etabliert. Zu nennen wären 2001 die Gründung des Sophie Drinker Instituts Bremen, ab 2002 das Projekt MUGI (Musik und Gender im Internet) der Hamburger Musikhochschule mit seinem Musikerinnen-Lexikon und ab 2006 das Forschungszentrum Musik und Gender (FMG) an der Musikhochschule Hannover. 2008 erschien dann im Supplement der Enzyklopädie „Die Musik in Geschichte und Gegenwart“, der Artikel „Gender Studies“, 2010 das „Lexikon Musik und Gender“ und in der Reihe „Kompendien Musik“ der Band „Musik und Gender“. Was bedeuteten diese Gründungen und Publikationen für das Fach?

Rode-Breymann: Gerade diese lexikalischen Publikationen sind Ausdruck dafür, dass das Gender-Wissen eine gewisse Gestalt angenommen hat, die man abbilden und einschreiben kann. Da muss sehr viel vorausgegangen sein. Das begann in den 1990er-Jahren, denn es braucht ja Akteurinnen, die das betreiben – die erste entsprechende Professur wurde 2000 in Detmold/Paderborn mit Beatrix Borchard besetzt – und es geht nur weiter, wenn solche „Leuchttürme“ Studierende um sich scharen, die die Themen weiter bearbeiten. Nur so kann Substanz zusammenkommen, die man als Kompendium zusammenfassen konnte. Die Institutsgründungen waren dann alle sehr verschieden: MUGI war als Internetprojekt damals sehr vorausschauend. Die Idee, so etwas im Zugriff für jedermann ins Netz zu stellen, das war 2002 schon bemerkenswert, verbunden mit der Idee, dass so etwas jederzeit ergänzbar sein muss, weil sich noch viel tut in diesem Forschungsgebiet. Das Sophie Drinker Institut von Freia Hoffmann konzentrierte sich auf Instrumentalistinnen und auf die Louise Farrenc Werkausgabe, die einzige Gesamtausgabe einer Komponistin. Durch die Mariann Steegmann Foundation kam dann das Angebot, ein weiteres Institut zu gründen, das wollte ich mitten in der Hochschule haben, eingebunden in Forschung und Lehre, was dann auch gut geklappt hat. Es war von vornherein geplant, dass sich nichts doppelt: MUGI hatte sein Gebiet, das Archiv Frau und Musik und das Sophie Drinker Institut ebenfalls. Wir haben das immer als ergänzendes System gesehen. Was wir noch nicht geschafft haben ist die Nachhaltigkeit aller Einrichtungen zu sichern, eventuell durch eine Zusammenführung…

Ricke: Nur weil sich die Genderforschung etabliert hat, ist es aber keinesfalls so, dass diese Zentren überflüssig wären. Es ist eben gerade wichtig, mehrere Zentren mit unterschiedlichen Schwerpunkten zu haben. MUGI ist als lebendiges Lexikon das beste Beispiel dafür, wie Genderforschung auch digital funktionieren kann.

nmz: Wie schätzen Sie das aktuelle Klima für die Frauen- und Genderforschung ein? Es gibt da ja aus bestimmten Teilen der Gesellschaft und der Politik Gegenwind.

„Genderismus“

Rode-Breymann: Hier sehe ich durchaus Probleme. Die abwertende Bezeichnung „Genderismus“ und die dahinter stehende Haltung zeigt sich bis in die Gutachtergruppen bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft hinein. Wir haben in Niedersachsen einen Zusammenschluss aller forschenden Gendereinrichtungen, und da habe ich tatsächlich eine schwere Störung einer Konferenz durch eine entsprechende Attacke erlebt, inklusive eines gefälschten Presseausweises. Das brachte mich erstmals in die Situation, als Präsidentin einen Hausverweis aussprechen zu müssen. Als ich dies in der Landeshochschulkonferenz angesprochen habe, hieß es in der ersten Runde, das sei eben Meinungsfreiheit, das müsse man aushalten können. Bei einem zweiten Treffen ist es dann doch gelungen, tiefer in das Thema zu gehen. Da kam dann heraus, dass es an den verschiedenen Hochschulen ähnliche Erfahrungen gibt, auch Attacken gegen weibliche Leitungspersonen. Das wird dann aber eher individualisiert, statt es als gesellschaftliches Thema zu bearbeiten. Ich bin sehr neugierig, wie es weitergehen wird. Es ist so, dass Professuren mit Gendernominationen teilweise zurückgenommen werden. Man kann angesichts junger Kolleginnen den hoffnungsvollen Blick dagegen halten, dass die Gedanken auch ohne Professuren mit einer solchen Denomination in die nächsten Generationen getragen werden, dass es weitergeht. Aber man kann auf der anderen Seite ziemlich sicher sein, dass wenn eine Fachhochschule, eine Universität oder eine künstlerische Hochschule von einer Frau geleitet wurde, danach ein Mann kommt. Da bleiben wir bei dem Befund der Studie zu Frauen in Kultur und Medien: Es gibt keine Steigerung, sondern es stagniert. Ich bin seit über zehn Jahren  in der Rektorenkonferenz der deutschen Musikhochschulen, da waren wir mehr Frauen am Anfang… Hinzu kommt, dass Frauen bei Berufungen häufiger absagen, wenn die Konstellation nicht stimmt, als Männer. Wenn Männer einen Ruf bekommen, gehen sie da hin!

nmz: Das klingt leicht resigniert… Frau Waller, Sie waren im Organisationsteam der Onlinekonferenz „Geschlechtergerechtigkeit in Kultur & Medien Europas“ des Deutschen Kulturrates (DKR). Welchen Eindruck von der Stimmungslage hatten Sie da?

Waller: Frau Rode-Breymann versprüht gar keine Resignation! Manchmal spüre ich schon eine tiefe Betroffenheit und gleichzeitig richte ich den Blick nach vorne, und so machen es alle, die ich aus diesem Bereich kenne. Das Credo der Konferenz, wie es DKR-Präsidentin Susanne Keuchel zusammengefasst hat, war da bezeichnend: Zugang – Teilhabe – Sichtbarkeit. Das ist der Dreiklang, um den es in allen Bereichen und Sparten der Kultur geht. Wenn man sich die Projekte ansieht, die wir im Zuge der Konferenz gesammelt haben und die man auch auf der Webseite nachlesen kann, dann sind da gerade auch für die Musik tolle Initiativen dabei: zum Beispiel aus England Kinderbetreuung speziell für Opernsängerinnen und Opernsänger oder aus Frankreich eine Charta von 18 Punkten für  mehr Geschlechtergerechtigkeit in Orchestern… Auf Resignation darf man sich nicht einlassen!

Ricke: Meine Stimmungslage ist grundsätzlich sehr positiv. Trotzdem muss man gerade in Bezug auf die Wissenschaft kritische Punkte thematisieren wie etwa die sehr speziellen Arbeitsbedingungen, die dafür sorgen, dass gerade in der Postdoc-Phase sehr viele Frauen „verlorengehen“. Die Ein-,  Zweijahresstellen, vielleicht am anderen Ende Deutschlands, die Pendelei – all das fällt dann in die Phase, in der Menschen in anderen Berufen eine Familie gründen, sesshaft werden, ein Haus bauen. Und die enorm hohe Mobilität und Flexibilität, die erwartet wird, wird durch die Gehälter überhaupt nicht ausgeglichen. Die Postdoc-Phase wird weniger als Beruf denn als Übergangszeit betrachtet. Viele Frauen entscheiden sich dann eben, aus der Wissenschaft herauszugehen, zum Beispiel auf Positionen in der Gleichstellung oder in der Verwaltung.

„MeToo“-Forschung?

nmz: Womit wir auch bei der „MeToo“-Bewegung wären: Braucht es neben der konkreten Aufklärung von Fällen und den Präventionsmaßnahmen an den Institutionen auch Forschung, um die Mechanismen zu verstehen und gegensteuern zu können? Wie könnte diese aussehen?

Rode-Breymann: Das ist beinahe wie die Frage an die katholische Kirche… Es ist wichtig, dass das aufgearbeitet wird, aber dann für das Gesamtsystem Universität/Hochschule, nicht nur für Musikhochschulen. Man müsste auch mit einer historischen Perspektive herangehen. Ich habe in den 1970ern angefangen zu studieren. Da war es schon libertinär. War man mit nur einem Freund unterwegs, war man schon reaktionär… Die Gesetzgebung hat sich aber deutlich verändert im Sinne von „Nein heißt Nein“. Es ist eine Pflicht zur Aufarbeitung da. Aber wer will das machen? Kann man das als im System Stehende? Wer hat Zugang zu den entsprechenden Akten? Ich hätte diesen Zugang für meine Hochschule, so lange ich Präsidentin bin. Zeit hätte ich erst danach. Aber ob ich dann nicht was Schöneres mache? Und für eine Qualifizierungsstelle, eine Doktorarbeit? Da werden alle Seiten unglücklich…

Waller: Der springende Punkt ist doch, dass die Institutionen Verantwortung übernehmen. Man müsste untersuchen, wie die Strukturen aussehen müssen, damit es zu einer erfolgreichen institutionellen Aufarbeitung kommen kann.

nmz: Ausgangspunkt könnte eine Datenbasis sein, aus der hervorgeht, wie viele Fälle es bisher gab und wie es sich dann entwickelt, sobald bestimmte Maßnahmen getroffen werden.

Rode-Breymann: Seit wir an unserer Hochschule eine entsprechende Richtlinie verabschiedet haben – seit Juni 2019 – hatten wir drei Fälle. Das ist gut, die sind jetzt nicht mehr unter dem Teppich…

Waller: Das ist ein Kernpunkt, den bei der Aufarbeitung an der Münchner Musikhochschule die Juristin und Psychoanalytikerin Giulietta Tibone genannt hat: Wahrheiten aussprechen und anhören – „speaking the unspeakable“.

Rode-Breymann: Ganz genau, das ist extrem wichtig. Wenn es auf dem formellen Beschwerdeweg passiert, dann ist es dieser formelle Weg, und wenn es um einen Straftatbestand geht, kommt natürlich die Polizei ins Spiel. Aber es geht den Betroffenen oft viel eher um das Gespräch als um Sanktionierung. Und wenn es zum Beispiel um einen Übergriff eines Lehrenden auf eine Studentin geht, dann muss ich als Dienstvorgesetzte mit diesem sprechen, aber dann hat man Aussage gegen Aussage. Viel besser ist es, wenn es ein kollegiales Team gibt und man sagen kann: Kommen Sie, wir reden miteinander.

Ricke: Die niedrigschwelligen Anlaufstellen sind sehr wichtig, um die Dunkel­ziffern zu senken. Es muss gesprochen werden, damit die schwereren Dinge nicht passieren. Denn diese geschehen ja selten, ohne dass etwas vorausgegangen ist.

Rode-Breymann: Hier regt sich dann aber auch mein emanzipatorisches Selbstverständnis: Warum sind für dieses Thema eigentlich die Frauen zuständig? Nach dem Motto: Das ist doch ’ne Gendertante, die kann das jetzt mal machen? Da stehe ich manchmal innerlich Kopf. Eigentlich müssen das die Männer selbst aufräumen!

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