Heute vor fünf Jahren wurde die Europäische Kulturstadt 1999 offiziell „geweiht“, eröffnet. Das war, wir erinnern uns, Weimar. Die Stadt hatte den Zuschlag unter anderem erhalten, weil in jenem Jahr der 250. Geburtstag Goethes gefeiert wurde. Sechs Millionen Touristen zog es nach Weimar, und alles in allem war Weimar mit einem vielgestaltigen Programm, mit PR-trächtigen Pannen, mit Trubel, Jubel, Events, Konzerten, Ausstelllungen, Museen, Kultur und Kneipen ein herzlicher und weltoffener Gastgeber. Geblieben ist eine runderneuerte kulturelle Infrastruktur, um die wohl jede deutsche Stadt vergleichbarer Größe Weimar beneiden würde. Hinter den leuchtenden Fassaden aber gähnt die Hoffnungslosigkeit einer Stadt, die den Kredit von 1999 nicht zu nutzen verstand.
Ereignisselig, veranstaltungssatt, höhepunktbeschwipst und von einigen Skandalen aufgekratzt waren die Weimarer und Millionen ihrer Gäste 1999 aus dem Kulturstadtjahr getaumelt. Weimar, diese kleine Stadt, sie strahlte. Dass wirklich Schluss mit lustig und den Events war, das wollte am Ende des Jubeljahres niemand so recht wahrhaben. Der Sturz aus dem Himmel einer üppigen Alimentierung auf den Boden leerer Kassen war umso härter. Plötzlich floß das Leben der europäischen Kulturmetropole auf Zeit wieder so träge dahin wie in jeder kleinen mitteldeutschen Stadt.
Nach dem Kulturstadt-Abgesang setzten sich deren Protagonisten ab. Bernd Kauffmann, der Kulturstadtmanager und Präsident der Stiftung Weimarer Klassik, stets ein belebender Ruhestörer, meinte sich an der kleinstädtischen Engstirnigkeit genug abgearbeitet zu haben. Kulturstadtdirektor Lutz Vogel zog es nach Dresden, wo er nun den Mut haben muss, den er in Weimar nicht zeigen wollte. Der Exodus machte schlagartig deutlich: Die Weimarer Aufbruchstimmung war der Kraft einer kleinen Zahl von Aktiven entsprungen. Seit dem Ende der Kulturstadt scheinen die Uhren nicht bloß stillzustehen, es hat den Anschein, sie laufen rückwärts. Was die gewesene Kulturstadt mit ihren Traditionen heute oder in zehn Jahren bezwecken will, das steht auf dem unbeschriebensten aller Blätter, über das sich in der Stadt der toten Dichter je ein lebendiger Kopf gebeugt hat. Das Stadtmuseum, 1999 aufwändig restauriert und von Grund auf neu inszeniert, ist geschlossen. Andere Museen beschränkten ihre Öffnungszeiten. Der Mäzen Paul Maenz denkt darüber nach, seine Sammlung zeitgenössischer Kunst aus Weimar zurückzuziehen. 1999 sollte sie den Grundstock für ein Museum moderner Kunst bilden. Man baut für viel Geld eine moderne Forschungsbibliothek, während das berühmte Goethe- und Schiller-Archiv öffentlich um Geld zur Restaurierung seiner Handschriften bettelt. Die „Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen“ agiert inzwischen auf der Hintertreppe. Der Stillstand der zweitgrößten Kulturstiftung Deutschlands steht stellvertretend für Weimars kulturelles Klima fünf Jahre nach der Eröffnung der Kulturstadt. Weimar war ein Event, eine dekorative Geschäftsauslage im Schaufenster der Deutschland AG. Seitdem bleiben die Stadt, ihr Erbe und ihr zwiespältiger Geist sich selbst überlassen. Was für ein symbolisches Kapital liegt da brach! Und wie symbolisch ist die Art, in der es nicht mehr zur Kenntnis genommen wird.
Es sollte – das hat Hellmut Seemann durchaus treffend benannt – jenseits von PISA-Studien und Elite-Uni-Fantastereien mindestens ebenso zukunftsträchtig bewertet werden wie das Gedankengut des gerade allseits gefeierten Immanuel Kant. Aber hat der Kanzler, als er vor ein paar Wochen just im Weimarer Hotel „Elefant“ die neue Liebe der Sozis zum Elitären verkündete, hat der Kanzler die 200 Meter bis zum Frauenplan in Goethes Haus geschafft? Nein. Fünf Jahre nach der feierlichen Erhebung Weimars zur Europäischen Kulturstadt beschreiben die fehlenden Mittel und Visionen eine sich ausbreitende Fehlstelle im geistigen Etat der Nation. Weimar und seine Traditionen beginnen überflüssig zu werden, das Erbe – lästiges Gepäck.
Die Kulturstadt 1999 steht zum Verkauf, wie jüngst bei e-bay die gesamte Bundesregierung. Ein Euro für Weimar, wer bietet mehr? – für ein pflegeaufwändiges Auslaufmodell einer ehemaligen deutschen Nobelmarke.