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Seit 15 Jahren wird der musikalische Frühling in Paris mit einem „Event“ eingeläutet, das alles, was Musik liebt, treibt, hört, kauft, handelt, verwaltet, bedient, auf die Beine bringt: wo früher die Schlachter metzelten, schlägt jetzt zu, wer und was am musikalischen Kuchen glaubt teilhaben zu können. Denn nicht nur ganz Paris träumt von der Liebe zur Musik, sie hat im ganzen Land einen zunehmend hohen Stellenwert. Wie könnte es anders sein, wenn sich Frankreichs Metropole eine Musikstadt in der Stadt leistet, eine Villette eigener Art am Nordostende des Stadtzentrums, genannt Cité de la musique mit Konservatorium, Sälen, Instrumentenmuseum, Infozentrum, Forschungs-, Pädagogik- und Publikationsetagen und eben jener zweigeteilten Frühjahrsschau: links die Musicora für Klassik, für ernste Musik, rechts der „Salon de la Musique Music Mania“, der die Fans der Musique nouvelle von Rock bis Pop in all seinen Erscheinungen befriedigt. Die beiden Wochenend-Warteschlagen unterscheiden sich kaum in ihrer Länge und im Durchschnittsalter der Besucher.
Kindertheater auf der Musicora (Foto: Marc Ginot)
Ungleiches sollte man nicht vergleichen, auch nicht Musicora mit der gestandenen Musikmesse in Frankfurt am Main. Denn Musicora ist keine Messe, keine Ausstellung, kein Happening, kein Reservoir für Einkäufer, sondern ganz einfach ein riesiger Musikmarkt für jeden, der kaufen, schauen, hören will, der etwas zu bieten hat als Fabrikant, Importeur oder Acteur. In den Probierkojen werden Meistergeigen ebenso wie Orgeln, Cembali und Klaviere und viel altes und neues Instrumentarium beäugt, geprüft. Ein so vielfältiges Angebot an Musikalien, Büchern und CDs, wie sie hier von nicht nur französischen Anbietern handgreiflich sind, vermag kein Musikhaus, kein Händler so differenziert vorzulegen. Dazu die Novitäten vom Malstift bis zur elektronischen Notenproduktion. Musikalische Ferienangebote und Festivals in verlockenden Weinregionen werben für sich hier ebenso wie die Hüter der angegriffenen Kopierrechte oder die Association Medicine des Arts für sophro-musikalisches Training als Prophylaxe musikalische Praxis. Kurzum: der Endverbraucher, der musikalische Kunde, Amateur oder Profi, Pädagoge oder Hör-Genießer, sie sind es, die auf diesem musikalischen Markt angesprochen, beraten und bedient werden, in einer lockeren Atmosphäre Gleichgesinnter, die sich hier der Klassik, in der andere Halle dem Entertainment zugehörig fühlen. Das reibt sich auch nicht mit Wiederverkäufern, die bei den Fünf-Tage-non-stop-Präsentationen von Projekten, Novitäten und Methoden auftanken für ihre Kundenbetreuung zu Hause.
Zwei Drittel der über 500 Aussteller aus 20 Ländern widmen sich der Hardware von allem, was zum Musikmachen und -wiedergeben taugt, ein Drittel bieten Software an, also Ideen, Infos, Service im musikkulturellen Umfeld. Für den ersten Tag widmete man sich mit Konferenzen und Seminaren der Profiszene, diskutierte um Rettung des Lebensmittels Musik vom Kindes- bis zum Seniorenalter, feilschte um die Rolle der öffentlichen wie privaten Hand, um Ausbildung und Berufs-chancen der nachwachsenden Musikergeneration, und um alles, was sich mit musique actuelles verbinden läßt. Denn schließlich geht es ums harte Geschäft mit der Musik, weshalb Berufsorganisationen, Urhebergesellschaften, Liebhaber- und Amateurverbände, Musikzeitschriften, Fachinstitute diese übergreifenden Begegnung gerne aufgriffen. Allerdings blieb France intern und unter sich. Denn alles Gerede, selbstbewußt nur in der Landessprache, konzentrierte sich auf Situation, Sorgen und Spezifika im eigenen Spielfeld.
„Die Stimme“, zentrales Thema der Musicora, ging fast unter, sieht man vom Open-Air-Eröffnungskonzert mit einer Chor-Creation von Marc Olivier Dupin, von Masterclasses und Begleitkonzerten in benachbarten Conservatoires ab. Life dabei ist France Musique mit Künstlerpräsentationen fast rund um die Uhr. Unter dem Kürzel MFA verbirgt sich die CD-Reihe „Musique Française d’Aujourd’hui“. Präsent sind daneben Radio Classique und eine Assozität privater Radios, und auch „euradio“, die Europäische Rundfunk-Union mit (nur wenigen) ausländischen Radiogesellschaften, die ihre Beiträge zur Musicora ins eigene Land transferierten. Die übrige Internationalität erscheint zufällig: Europäische Institutionen und Organisationen sind rar, den Europäischen oder den am Ort ansässigen Internationalen Musikrat der UNESCO sucht man vergeblich, allenfalls trifft man auf dessen Europäische Vereinigungen der Musikfestspiele und die in der ISME vereinigte Musikerziehung, Zusammenschlüsse der Chorarbeit, der Instrumentenbauer, darunter gleich zwei konkurrierende Vereinigung der Geigenbauer. Italien präsentiert sich geschlossen mit Herstellern von Instrumenten und Dokumenten alter Musik, Skandinavien und Kanada mit Infos ihrer zeitgenössischer Musik.
Frankreich hat aufgeholt
Überwältigend die Angebotsvielfalt der französischen Musikszene: Fachzeitschriften, Ausbildungsangebote, Laien- und Jugend-Musikaktivitäten, Stages, Seminare, besonders rührig die FNAPEC, die Elternorganisation der rund 3.000 Musikschulen und Conservatoires, oder die der Amateurmusik verpflichtete Confédération Musicale de France. Das vom Geiger Alfred Lœwenguth vor 40 Jahren begründete einzigartige Orchestre de Jeunes lebt weiter neben dem von Radio France gesponserten Orchestre Français des Jeunes. Der Flötenenthusiast Charles Tripp, genannt Charlieflûte, weist auf sein Musée des Flûtes du Monde mit einigen tausend Schaustücken hin. Dutzende von Festivals zwischen Aix-en-Provence und Strasbourg, zusammengeschlossen in einer französischen Föderation, oder im benachbarten Belgien werben um die Besuchergunst. Aus Deutschland leistet sich gerade die Mitteldeutsche Konferenz für Barockmusik einen Standplatz. Hier mag Musicoras Ruf aus den Gründerjahren nachwirken, die als Fachausstellung Alter Musik ihren Anfang nahm.
Natürlich sind Deutschlands und Österreichs führende Musikverleger selbst oder über ihre französischen Repräsentanten präsent. Die Neugierde des französischen Publikums auf die Musikeditionen in den Nachbarländern ist ähnlich groß wie unser Staunen, was die zahlreichen französischen Verlage zu so reicher Ernte beflügelt. Faksimile-Ausgaben sind hoch im Kurs, vor allem wenn das Notenbild für heutige Praxis verständlich bleibt wie etwa in der gerade neu vorgelegten, um 1800 erstmals erschienenen Flötensonate des Jan Ladislav Dussek (Blasmusikverlag R. Martin). Spezialisiert wie die Schweizer Edition Minkoff ist mit bereinigten „Fac-Similes“ und Ikonographien die ihr 25jähriges Jubiläum feiernde französische Édition J. M. Fuzeau. In mehreren Serien widmet sie sich der musique classique française zwischen 1650 und 1800 und anderen Originalwiedergaben bedeutender Hauptwerke der Musikgeschichte neben pädagogischen Intentionen zugedachten Materialien. Alte Musik in historisch-musikwissenschaftlich vertretbaren Ausgaben ist die Domäne der laufend erweiterten Collection „le pupitre“ der Édition Heugel.
Frankreichs Komponistengeneration von heute trifft man beim Besuch der Musikverlagsstände. André Amellérs breites Œuvre (1912-1990) verteilt sich auf 15 französische Éditeurs. Claude-Henry Joubert, jetzt Präsident eines Popularcentrums in den Pyrenäen, mit seinen praxisnahen, jungen Spielern zugeschriebenen Werken findet man verteilt bei wenigstens sechs Verlegern. Um Georges Barboteu mit seiner bläserischen Kammermusik (neu seine Viennale für Oboe), André David und Christiane Drouillet (neue Klavierstücke) und Michel Merlet (avantgardistisches Flötensolo) kümmert sich die Édition Choudens. Bernard Cavanna, Philippe Schoeller, Pierre-Laurent Aimard, François Narboni werden in der neuen Édition Musicales Européennes in Paris betreut. Zur mittleren Komponistengeneration gehören Komponisten wie Philippe Fénelon, Patrice Foullaud, Thierry Lancino, Piotr Moss, für deren Orchester- und Ensemblewerke sich das Haus Durand stark macht. Bei Salabert repräsentieren Suzanne Giraud, Lux Ferrari, Iannis Xenakis, Marcel Landowski, Giacinto Scelsi kompositorische Gegenwart. In der Édition Hortensia stößt man mit O. Gartenlaub, B. Haultiert, G. Delerue auf neue Namen. 100 kanadische Komponisten listet das Répertoire des compositeurs du Quebec auf, die teilweise in die kanadische Édition Doberman-Yppan eingebunden sind.
Thema Musikerziehung
Musikalische Erziehung in Schule und Musikschule, Ensemblespiel und Kammermusik sind in Frankreich zunehmend en vogue. Prompt haben die Verleger reagiert, Komponisten und Herausgeber sich inspirieren lassen. Zum Beispiel van de velde musique mit neuen Schulwerken, Piano-Jazz, aufsteigenden Hilfen für Ensemblespiel, oder Billaudots Instrumentalsammlungen „pour les Jeunes“ mit Musik des 20. Jahrhunderts. Ebenso die „Collection Jeunesse“ der Édition Combre, die Serie „Orchestre de Jeunes“ bei Leduc. Fast alle französischen Notenausgaben bedienen sich einer Schwierigkeitsskala 1 bis 9, den landesüblichen Ausbildungszyklen entsprechend. Universell im Angebot sind die Kataloge der großen französischen Verlage wie Billaudoit, Durand mit Amphion und Eschig, Leduc, Salabert. SEDIM, die Société d’Édition et de Distribution Musicale, stellt dabei die wichtigste Vertriebsorganisation einiger Dutzend französischer und ausländischer Kataloge dar. Sympatisch, wie überblicklich und geordnet sich die Musicora gibt: jeweils unter sich gruppiert die einzelnen Instrumentenfamilien, Schwerpunkt alte Musik, Zubehör, Verleger, Veranstalter, Schallplatten. Junge Künstler demonstrieren die verschiedenen Tasteninstrumente. 15 Hersteller von Pfeifen-, Elektronik- und Dreh-Orgeln tolerieren sich friedlich nebeneinander.
Meisterhafter Geigenbau
Über 100 Geigenbauer nutzen die Chance des Individualkontaktes, verteidigen ihre Eigenbauten, Instrumente wie Bögen, gegenüber dem zu hohen Prestige alter Instrumente, darunter Neuentwicklungen elektrodynamischer Streichinstrumente, die ohne Resonanzkörper mehr oder weniger stumm bleiben und sich über Kopfhörer mitteilen, oder solche, die historische Formen bewußt verlassen, um mit neuem Design, neuen Formen und deren Klangergebnissen zu experimentieren. Oder fidelähnliche Instrumente mit Bünden, gotischen Vorbildern nachempfunden. Akustisch oder elektroakustisch funktioniert eine „Cithare Aurore“, die gezupft durch Kinderhände im Klasseneinsatz einem Zitherorchester ähnelt.
Point Music „La musique interactive“ aus Marly ist die Wunderkiste von zigtausend Titeln auf einem Quadratmeter. Eine PayCard eingeführt, Titel gewählt, angeschaut, angehört und abgerufen zum gestochen scharfen Ausdruck, ob Chorpartitur oder ganzes Ensemblematerial. Die Lizenzen werden mit dem Rechte-Inhaber verrechnet. Ein Traumgerät für Musikschule oder Musikhaus, das dann auf Notenlagerung und mühselige Bestellvorgänge verzichten kann.
Weitere Druck- und Herstellerhilfen beschert die Elektronik: „partitor“ verspricht den Notenverkauf aus dem Internet, Logicel Berlioz aus Lédignan malt Noten, ähnlich „capella“ mit dem MIDI-Klavier oder das Programm Score, das inzwischen führende Verlage für ihre Notenproduktion einsetzen. Musicora, für Klassik-Fans in Frankreich inzwischen Instanz geworden, – aber eben nicht, noch nicht repräsentativ für die Musikwelt in Europa in seiner Vielfalt, für ein Europa der Musik. Aber Musicora wittert wohl die Chance dafür.