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Frischzellenkur für alle Beteiligten

Untertitel
3. Internationale Jugend-Kammerchor-Begegnung
Publikationsdatum
Body

nmz 2000/10 | Seite 29
49. Jahrgang | Oktober

Frischzellenkur für alle Beteiligten

3. Internationale Jugend-Kammerchor-Begegnung
auf Usedom

Neun Tage war ich also mittendrin! Ungefähr 250 Jugendliche aus sieben Ländern hatten sich vom 26. 7. bis 3. 8. 2000 zur 3. Internationalen Jugend-Kammerchor-Begegnung auf der Insel Usedom eingefunden. Dazu drei Workshopleiter – und was für welche! Helmut Steger, Dirigent des Stadtsingechores zu Halle, neuer Vorsitzender des AMJ (toll, einen Top-Musiker an der Spitze eines Verbandes zu finden und nicht einen Funktionär) und so nebenbei auch noch Bariton-Solist in einer Uraufführung des Festivals, erarbeitete mit seinen gemischten Chören das „Ecco mormorar l’onde“ von Monteverdi, Kodály’s „Horatii Carmen“, „Toutes les nuits“ von Janequin (kaum zu glauben, wie Norweger, Ungarn und Deutsche innerhalb von zehn Tagen federleichtes Französisch singen können), ein mazedonisches Volkslied (die ganze Lebenslust der Jugendlichen explodierte heraus) und als Tribut ans Bach-Jahr die doppelchörige Motette „Ich lasse dich nicht“.

Dann die Belgierin Marijke Coghe. Sie hatte für drei Mädchenchöre aus Russland, der Slowakei und Deutschland Literatur zum „Gloria“ zusammengestellt. Der Bogen reichte von Dufay und Zagatti bis zu den Zeitgenossen Colding-Jørgensen und Bikkembergs. Es war herzerfrischend zu erleben, wie die jungen Damen sich begeistert den nicht leichten Aufgaben der neuen Stücke stellten und wie die Begeisterung auf fast 1.000 Zuhörer im Wolgaster Dom übersprang. Sage noch einer, Neue Musik könne nicht vermittelt werden – sie muss ernst genommen, sachgerecht umgesetzt und geliebt werden, dann geht’s.

Schließlich Bob Chilcott aus England. Noch so ein Multitalent. Zwölf Jahre lang war er Mitglied der King’s Singers. Und heute heizt er jungen Workshop-Teilnehmern ein. Sie kommen aus Belgien, Polen und Deutschland und lassen sich in kürzester Zeit anstecken von der unbändigen Energie und Lebenslust Chilcotts. Sein Credo: „Was ist der Beifall eines noch so großen Publikums der King’s Singers gegen die Freude dieser jungen Menschen und die Dankbarkeit, die sie mir entgegenbringen?“ Und so schafft er es scheinbar mühelos, dass alle alles im Schlusskonzert auswendig singen: sowohl die rhythmisch-tänzerisch mitreißenden „Island Songs“ des Australiers Stephen Leek (Sängern wie Publikum zuckt es gleichermaßen in allen Gliedern und die Kirche tobt ganz unandächtig vor Begeisterung) als auch das kanadische „Tell My Ma“ von Jon Washburn (welch treffende Stückwahl: die jungen Leute finden sich selbst in ihren pubertären Nöten und Freuden im Inhalt wieder). Und auch die Uraufführung wird ohne Noten gesungen: ein „Lobgesang des Simeon“ – von Chilcott selbst eigens für das Festival komponiert und dem AMJ gewidmet. Der AMJ darf stolz sein auf solche Verbindungen und die Ergebnisse, die daraus resultieren. Übrigens: kein Problem für die Kids, von heißen Rhythmen und großer Ausgelassenheit auf die tiefe Nachdenklichkeit in Text und Musik des „Simeon“ umzusteigen. Kompetent geführt, als Partner verstanden und sogar geliebt sind Jugendliche zu großen Leistungen fähig.

Und das spürte man während der gesamten Zeit des Festivals: hier sind Menschen als Verantwortliche am Werk, die die ihnen anvertrauten jungen Leute annehmen. Das gilt sowohl für die Musiker als auch für den gesamtleitenden Kopf und stillen, aber unglaublich effektiven Organisator im Hintergrund: AMJ-Generalsekretär Rolf Pasdzierny. Der Ablauf des Schlusskonzertes mit neun Chor-Einzelauftritten, drei Workshop-Präsentationen mit wechselnder Besetzung und zweimaligem Gemeinschafts-Auftritt aller Beteiligten war ein logistisches Meisterstück.

Ach ja, und dann war da noch der schreckliche Mordfall in Ahlbeck. Und da war Peenemünde mit seiner wechselvollen und irritierenden Geschichte. Da war auch der Gang zu Fuß über die polnische Grenze. Aber da waren auch zehn Konzerte der einzelnen Chöre in den wunderschönen Inselkirchen (alle rappelvoll!) und die Ausgestaltung von acht Gottesdiensten. Und schließlich die Insel selbst mit ihren wunderschönen Fleckchen und ihrem Strand und sogar recht viel Sonne am Tag und dem Mond in den Nächten mit gemeinsamem Gesang und vielen vielen Gesprächen. Mittendrin war ich dabei. Stundenlang habe ich tolle Musik gehört. Viele Kilometer habe ich zurückgelegt. Geschlafen habe ich wenig. Es war anstrengend – aber toll, toll, toll. Die beste Frischzellenkur, die ich je hatte.

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