Der Bundesmusikverband Chor & Orchester e.V. (BMCO) ist der übergreifende Dachverband von 20 bundesweit tätigen weltlichen und kirchlichen Chor- und Orchesterverbänden mit insgesamt 100.000 Ensembles. Er entstand am 29. März 2019 durch Zusammenschluss der Bundesvereinigung Deutscher Chorverbände e.V. (BDC) und der Bundesvereinigung Deutscher Orchesterverbände e.V. (BDO) und vertritt die Interessen der Amateurmusik gegenüber Politik und Öffentlichkeit. Als Präsident steht der Bundestagsabgeordnete Benjamin Strasser an der Spitze des neuen Verbandes. Strasser ist Jurist, Mitglied des Bundestags für die FDP, ordentliches Mitglied des Innenausschusses des Bundestags und Berichterstatter der FDP-Fraktion für die Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben (BOS).
neue musikzeitung: Herr Strasser, wie sind Sie Präsident des neuen Verbandes BMCO geworden? Was waren Ihre Beweggründe?
Benjamin Strasser: Ich war sehr überrascht, als die Anfrage kam, ob ich mir vorstellen könnte, Präsident des neu fusionierten Verbandes zu werden. Ich musste kurz überlegen, ob ich mir das zutraue. Es war der explizite Wunsch der Verbände BDC und BDO, einen eher jüngeren Abgeordneten auszuwählen, der beide Welten kennt: Chor und Orchester. Nach einer gewissen Bedenkzeit habe ich zugesagt, dieses spannende Projekt der Fusion und der Verbandsarbeit mitzugestalten.
nmz: Wie kam die Musik in Ihr ehrenamtliches Leben?
Strasser: Ich bin im oberschwäbischen Berg bei Ravensburg aufgewachsen. In meiner Heimatgemeinde hatte ich viele Jahre Geigenunterricht an der dortigen Musikschule. Als Schüler spielte ich in diversen Orchestern, die letzten drei Jahre vor dem Abitur im Jugendsinfonieorchester der Musikschule. Das war eine spannende, bereichernde Zeit, die ich nicht missen möchte. Wir waren an einer Opernproduktion im Konzerthaus Ravensburg beteiligt und tourten durch Europa. Während des Studiums spielte ich im Uni-Orchester. Das war dann aber während meines juristischen Referendariats zeitlich nicht mehr zu schaffen. Seit sieben Jahren bin ich auch im Chorbereich aktiv. Das ist für mich nicht so probenintensiv wie das Orchesterspiel. Meine Mutter ist seit über 40 Jahren im Kirchenchor St. Peter und Paul in Berg aktiv und hat mich als Bass „geworben“.
nmz: Wann fiel die Entscheidung für die Rechtswissenschaften und gegen die Musikkarriere?
Strasser: (lacht) Studium und Musik liefen viele Jahre parallel. Mir war klar: Ich will hauptberuflich von der Juristerei leben. Das war nie eine Entscheidung gegen die Musik. Die hat weiterhin einen hohen Stellenwert in meinem Leben.
nmz: Sie haben die Präsidentschaft des BMCO in einer Phase der Fusion übernommen. Was waren die größten Herausforderungen seit Beginn ihrer Amtszeit?
Strasser: Die erste und wichtigste Herausforderung ist es, den Verband zusammenzuführen. Es sind unterschiedliche Welten und Strukturen, die wir zusammenbringen wollen. Da heißt es für mich zunächst zuhören, den Prozess moderieren, alle mit auf den Weg nehmen. Den Verband zur Stimme der Amateurmusik zu machen – das ist unser Anspruch. Und natürlich die politische Sichtbarkeit der Menschen, die in ihrer Freizeit ehrenamtlich Musik machen, zu erhöhen.
nmz: Worin liegt der Mehrwert der Fusion?
Strasser: Der Mehrwert besteht zunächst darin, dass wir größer sind, dass wir mehr Personen und Verbände vertreten. Dadurch erreichen wir mehr politische Relevanz. Wir verstehen uns jedoch nicht nur als Interessenvertretung, sondern wir wollen auch politischer Ratgeber für die Bundesregierung sein. Ratgeber dafür, wie man Projekte der Amateurmusik vor Ort so umsetzen kann, dass die Gelder, die der Bund gibt, auch richtig ankommen und die Zielsetzung erfüllt wird. Diese Doppelfunktion Interessenvertretung und Ratgeber, die möchte ich mit Leben erfüllen. Mir ist es auch wichtig, den Mehrwert dieser Fusion für die Mitglieder deutlich zu machen. Wir können voneinander lernen, wenn es darum geht, die eigenen Arbeitsfelder zu verbessern.
nmz: Der BMCO ist ein Dachverband der Dachverbände. Es gibt weiterhin zwei Geschäftsstellen, eine in Berlin, eine in Trossingen – bleibt diese Doppelstruktur erhalten?
Strasser: Diese Doppel-Struktur bietet einen unglaublichen Mehrwert. Es ist Teil des Fusionsprozesses: Wir versuchen, weniger in Chor und Orchester zu denken. Wir machen in Berlin Verbandsarbeit und Öffentlichkeitsarbeit. Deswegen brauchen wir die Berliner Geschäftsstelle, weil wir nah an den Entscheidern dran sind. In Trossingen findet vor allem interne organisatorische Arbeit statt. Wir versuchen, unsere Mitgliedsverbände in der Verwaltung zu entlasten. Die Vergabe der Projektmittel – das sind im Jahr knapp 2,5 Millionen Euro –, die an die Mitgliedsverbände weitergeleitet werden, findet dort statt. Und wir versuchen Synergien zu heben, beispielsweise in der Zusammenarbeit mit der Bundesakademie Trossingen oder der dortigen Hochschule für Musik. Die Doppelstruktur hat sich bewährt und kann auch in Zukunft viel für den BMCO bringen.
nmz: Wer sind die Hauptförderer?
Strasser: Sowohl das Ministerium für Bildung und Forschung (BMBF) wie auch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) sind unsere beiden Hauptgeldgeber. Aktuell haben wir die Förderprojekte „Musik für alle“ (BMBF) und „Musik vor Ort“ für Modellprojekte in ländlichen Räumen (BKM) ausgeschrieben. Wir sind der Transmissionsriemen: Unsere Mitgliedsverbände beziehungsweise Strukturen aus den Mitgliedsverbände können sich bei uns um Fördermittel bewerben. Wir leiten sie nach Maßgabe weiter.
nmz: Erhält der neue Verband auch neu ausgewiesene BKM-Mittel?
Strasser: Die hatten die Vorgängerverbände in Teilen auch schon. Doch für das BKM und auch die Bundesregierung als Ganzes ist es wesentlich praktischer, wenn man einen Ansprechpartner hat und nicht zehn, die sich für die gleiche Sache einsetzen.
nmz: Warum kam der Schulterschluss von BDC und BDO gerade jetzt oder besser erst jetzt? Gab es da Anregungen von Seiten des BKM, der Politik ganz allgemein?
Strasser: Es war der vierte Anlauf für eine Fusion, den man gewagt hat. Das BKM hat uns immer darin unterstützt. Aber es war eine freie Entscheidung der Verbände. Die Entscheidung haben die Mitgliederversammlungen der Verbände getroffen, in dem Wissen, dadurch eine größere Wirkmächtigkeit zu haben. Am Ende des Tages geht es nicht darum, wieviel Verbände es gibt, sondern wie kriegen wir die Interessen der Amateurmusik voran?
nmz: Was sind zentrale Vorhaben des neuen Verbandes?
Strasser: Neben „Musik vor Ort“ kann ich da einiges nennen:
• „Singbus 2020“ – jedes Dorf soll seinen eigenen Kinderchor haben. Das Projekt wird mit 1 Mio. Euro gefördert. Es geht hier nicht nur um Nachwuchs für Kinderchöre, sondern insbesondere auch um positive Wirkung des Singens auf die Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen.
• „Beethoven anders“ – im Beethoven Jahr 2020 können sich hier Initiativen aus ganz Deutschland bewerben. Es geht im Kern darum, wie man die Musik Beethovens auch anders präsentieren kann. Wir wollen Menschen für die Musik Beethovens, für klassische Musik überhaupt begeistern.
• „Deutsches Musiktreffen 60plus“ in Bad Kissingen, das sich vor allem an
Musizierende in der nachberuflichen Lebensphase richtet.
• Die jährlichen „Tage der Chor- und Orchestermusik“, welche dieses Jahr in Dessau-Roßlau stattfinden. Es kommen unter anderem Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und der Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt, Reiner Haseloff. Wir verleihen im Rahmen dieser Veranstaltung die Zelter- und die Pro Musica-Plakette. Eine Tradition von BDC und BDO, die wir als Träger nun weiterführen.
Als Stimme der Amateurmusik werden wir das Gespräch mit der GEMA suchen. Wir haben eine GEMA-Kommission aus Vertretern der Mitgliedsverbände eingerichtet und werden prüfen, ob wir als BMCO einen Tarif erreichen können, der verwaltungsarm und fair für unsere Verbände und für die Künstlerinnen und Künstler ist, die davon leben müssen.
nmz: Aus dem Profibereich hört man die Klage, dass die Abonnenten- und Besucherzahlen rapide abnehmen? Wie steht es um das Interesse für die Musik bei den Amateuren?
Strasser: Klar konkurriert man auch mit anderen Angeboten. Aber: Wir haben durchschnittlich täglich 1.400 Veranstaltungen, die in Deutschland stattfinden und wahrgenommen werden. Das zeigt für mich, dass Amateurmusik lebendig und attraktiv ist. Insbesondere in der Chorlandschaft bewegt sich vieles.
Die größte Gefahr für die Amateurmusik und fürs Ehrenamt ist nicht der Nachwuchsmangel, sondern eine Belastung der Strukturen durch Politik und bürokratische Vorschriften: angefangen mit der Datenschutzgrundverordnung; dann hatten wir das Thema Transparenzregister beim Geldwäschegesetz, wo vom ehrenamtlichen Verein rund acht Euro für den Eintrag verlangt wurde, obwohl die Behörde die Daten schon alle hatte. Wir gehen als Frühwarnsystem an die Politik: Bitte nicht noch mehr bürokratische Belastungen. Menschen, die gemeinsam musizieren, treffen sich nicht, um Formulare auszufüllen.
Bei all der Konkurrenz ums Zeitkontingent, haben wir einige Vorteile auf der Hand: Wir bieten ein Gemeinschaftserlebnis, das durch Handy und andere Angebote nicht ersetzt werden kann. Deswegen bin ich nicht in Sorge um die Zukunft der Amateurmusik.
nmz: Die Mitgliederversammlung des Deutschen Musikrates hat Ende Oktober 2019 den 5. Berliner Appell verabschiedet: „Musik machen – Haltung zeigen. Für eine demokratische, weltoffene Gesellschaft und für Kulturelle Vielfalt“. Welche Rolle kann die Amateurmusik bei der Erreichung dieser Ziele spielen?
Strasser: Da müssen wir als Verband nichts organisieren. Die Ideen kommen von der Basis. Ein Beispiel von vielen: In Berlin gibt es einen Chor, der sich 2015 gründete, um mit Flüchtlingen zu musizieren. Ziel war und ist die Flüchtlingsintegration, Spracherwerb und so weiter. Oder wenn ich die vielen Blaskapellen nehme: da wird Inklusion gelebt. Wir müssen als Verband eher schauen, wo kann man derartige Initiativen als Politik unterstützen und wo muss man es sogar? Das Schöne an der Amateurmusikszene in Deutschland ist deren Diversität. Diese gilt es zu erhalten und zu stärken.
nmz: Ein Schlusswort?
Strasser: In unseren Strukturen musizieren 3 Millionen Menschen – nach den Zahlen des Musikinformationszentrums gibt es aber bis zu 14 Millionen, die in ihrer Freizeit Musik machen. Wir haben den Anspruch, die Interessen aller dieser Menschen zu vertreten, die für die Musik aber nicht von der Musik leben.
Interview: Andreas Kolb