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Cara-Künstler in Aktion. Foto: Artes Konzertbüro
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Ganz still ist’s an Europas Türen

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Wie viele Künstler am Brexit und der Amputation der Kultur leiden – am Beispiel der internationalen Band „Cara“
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In unserem Tübinger Haus herrscht Stille. Hinter Hendriks Tür ist seit Wochen kaum mal ein Dudelsack zu hören. Auch keine Geräusche von Skype-Gesprächen, die Hendrik Morgenbrodt vor allem mit den Bandmitgliedern und -gästen von „Cara“ führt. „Cara“ bedeutet im Irischen „Freund“. Wenn die Freunde auftreten, ist kein Rascheln eines Seidenpapiers zwischen ihnen zu hören, alle sind einander ganz nah, sie musizieren unglaublich präzise und feurig. Die Freundinnen und Freunde in der Band stammen aus Deutschland, Schottland und Irland und sonst woher.

Das Außergewöhnliche ist: Der Hamburger Hendrik baut in Tübingen neben Instrumenten-Exoten hinter der Tür Dudelsäcke. Die Tür aus dem 18. Jahrhundert stammt aus einem Abriss-Container in Berlin, ein in den Masuren geborener Möbel­experte hat sie geborgen: Ich fuhr sie mit einem Europcar-Laster nach Tübingen, restaurierte sie, ein griechischer und ein polnischer Allround-Handwerker bauten sie ein. Die Tür lebt durch die Musik dahinter.

Stillgelegt, Stillstand. Mit dem Reisen und dem Konzertieren ist Schluss seit dem Brexit. Schluss auch durch Corona. Vorerst Schluss mit „Cara“, wie bei anderen Musikern liegt auch hier ein CD-Projekt unter politischem Packeis. Von 70 Auftritten innerhalb des letzten Jahres waren mal gerade 20 möglich. Das waren nicht nur Gigs, sondern die Band reiste früher zu Tourneen durch Großbritannien oder die USA. Sorge breite sich unter ihnen aus, sagt Hendrik, „Cara“ könnte sich auflösen: die Flugpreise steigen, die Maschinen bleiben oft am Boden, die Bürokratie ist zur Qual gewachsen, ebenso ein System von Restriktionen. Die Managerin Gudrun Walther, zudem Sängerin, Fiddlerin und Akkordeonistin, teilt die Sorgen nicht: „Die Band hat 17 Jahre zusammengehalten!“ Schwierigkeiten seien immer überwunden worden, sogar mit Kleinkindern wären sie auf Tour gegangen. Jürgen Treyz wird das bestätigen: Der Gitarrist und Dobro-Spieler ist seit 2003 dabei und zusammen mit Gudrun Walther der Gründer von „Cara“. Die Schuld für das jetzige Chaos sieht Walther darin, dass sich die EU und Großbritannien nicht einigen. Seit Mitte Januar wächst der Protest der Künstlerinnen und Künstler in Europa und in Großbritannien sowie in Irland gegen die Repressalien. Boris Johnson aber, von der Schriftstellerin A. L.  Kennedy sarkastisch stets „Popo“ genannt, schweigt. „Der Brexit“, so Kennedy in der „Süddeutschen Zeitung“, „war immer ein rasender Fiebertraum. Jetzt ist er aus“. Als Schottin sage sie: „Her mit der Unabhängigkeit“. Und: „Wales verzweifelt. Nordirland wird irischer.“

Was das im Detail bedeutet, erklärt die schottische Literatur- und Musikwissenschaftlerin Kim Edgar, Sängerin und Pianistin von „Cara“: „Schwierig, klare faktenbasierte Informationen von Regierungsseite zu bekommen. Falls eine Arbeitserlaubnis für Konzerte in jedem einzelnen EU-Land gesondert beantragt werden muss und ein Carnet (Zolldokument) für das Reisen mit Equipment, also Musikinstrumenten, notwendig ist, dann wird das Touren teurer und die Vorbereitungen zeitintensiver als zuvor.“ Musikträger oder T-Shirts dürfen nicht frei verkauft werden. Einzelkonzerte würden wahrscheinlich finanziell nicht mehr wirtschaftlich sein. Bereits 2019 waren 87 Prozent der Musikschaffenden in Großbritannien besorgt, sie könnten in der Zukunft nicht mehr in der EU auf Tournee gehen – so eine Umfrage der Musicians Union, eine Gewerkschaft, in der Kim Edgar Mitglied ist.

Corona macht die Situation zudem völlig unabwägbar. „Im Moment ist es in Schottland illegal, das Land zu verlassen oder zu besuchen“, sagt Kim. Und wer aus dem Ausland nach Schottland zurückkehrt, müsse 14 Tage isoliert in ein Quarantäne-Hotel – auf eigene Kosten. Die Situation werde zwar alle drei Wochen neu bewertet, derzeit aber dürfe man nur mit einer speziellen Erlaubnis seine Umgebung verlassen.

All das klingt nach doppelter Strafe. Hinzukommt, dass die Musiker auf Live-Konzerte angewiesen sind, „weil die Streaminganbieter die Verdienstmöglichkeiten aus Musikaufnahmen schrumpfen lassen“, schildert Kim die Situation. Wer keinen zweiten Job hat wie Bodhrán-Spielerin Aimée Farrell-Courtney aus der Band, die in Dublin als Dozentin arbeitet, den treffen die Verordnungen und die Untätigkeit der Regierung buchstäblich ins Mark, weil auch die Fragen der Krankenversicherungen offen sind: Die European Health Insurance Cards können nach ihren Ablaufdaten derzeit nicht verlängert werden. Präzise Informationen über eine neue angeblich geplante globale Krankenversicherung in Großbritannien sind nicht zu haben, klagt Kim Edgar – außer, dass diese Krankenversicherung wohl zusammen mit einer Reiseversicherung abgeschlossen werden müsse.

Immerhin setzt sich Elton John öffentlich wirksam im Fernsehen für eine Vereinfachung des Systems ein. „Wir werden uns seitens der Musicians Union für diese Kampagne einsetzen“, versichert die Schottin. Gudrun Walther hofft auf ein Modell wie „Greencard“, um die Arbeit und die Reisemöglichkeiten zu erleichtern. Kim Edgar, die sich eine Optimistin nennt, ist zuversichtlich, dass Wege zur Lösung der Probleme gefunden würden. Ein Weg ist ihre Hoffnung, dass Schottland unabhängig wird vom Vereinigten Königreich, denn die Schotten hätten mehrheitlich dafür gestimmt, in der EU zu bleiben – weil sie die Werte der EU teilten. Ironie oder Schicksal: Vor bald 300 Jahren – 1727 – beantragte Georg Friedrich Händel die englische Staatsbürgerschaft. König Georg I. stimmte der Einbürgerung von „George Frederick Handel“ zu. Am 11. Januar 2021 wurde Sir Simon Rattle in München zum neuen Chefdirigenten des Sinfonieorchesters des Bayerischen Rundfunks berufen, das er von 2023 an leiten wird. Am 15. Januar teilte Sir Rattle mit, er habe die deutsche Staatsbürgershaft beantragt. Ach, Europa!

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