Body
Die Konzertbesucher aus Tschechien, Deutschland und Israel plauderten, lachten sogar, bevor sie sich auf die Holzplätze begaben: Stuhlreihen, gezogen zwischen beklemmenden Einzelzellen und hellen Räumen mit dreistöckigen Holzpritschen, im Nacken ein Wachturm, der Blick auf die improvisierte Holzbühne.
Sie verdeckte die noch immer sichtbaren Einschußlöcher an der dahinterliegenden Wand. Noch heute lassen sie erahnen, mit welcher Brutalität Nazis im vierten Innenhof dieser kleinen Festung Theresienstadt Menschen hinrichteten, weil sie Juden, schwul oder/und politisch unliebsam waren. Hier und im benachbarten Ghetto starben 35.000 Menschen an Hunger, Erschöpfung, Mißhandlungen und durch Hinrichtungen. Weitere 87.000 Inhaftierte wurden von hier aus auf eine letzte Reise in deutsche Vernichtungslager geschickt. Mit dieser Realität des Grauens ist das kulturelle Leben im damaligen Vorzeige-KZ nicht in Einklang zu bringen. So ist mittlerweile dokumentiert, wie beispielsweise die Komponisten Viktor Ullmann, Gideon Klein, Pavel Haas und Hans Krása im Rahmen einer sogenannten „Freizeitgestaltung“ sehr rege komponierten, probten und konzertierten. Was heimlich begann, wurde später von den Nazis geduldet und dann sogar propagandistisch ausgeschlachtet.
Die Hans-Krása-Stiftung Terezin ließ an diesem Ort, als Hommage für die zahlreichen inhaftierten Künstler und ihr Publikum – und auf Wunsch einiger Überlebender – das Verdi-Requiem erstmalig wieder aufführen. Damals hatte dieses Werk eine Schlüsselstellung eingenommen. Der Dirigent Rafael Schaechter, ein strenger und mutiger Kapellmeister aus Rumänien, studierte es 1943 und 1944 dreimal ein. Die Fluktuation im Chor war hoch, weil ganze Besetzungen immer wieder in KZs geschickt wurden. Dennoch sang man in einem dunklen Keller auswendig und mit Begeisterung von Tod und Erlösung, von Trost und Auferstehung. Trotz der unerträglichen Bedingungen demonstrierte Schaechter damit die kulturelle Zusammengehörigkeit der Juden mit der gesamten europäischen Kultur. Die Schmerzen und die Qual inhaftierter Juden aber durch eine katholische Totenmesse herauszusingen, stieß damals vor allem bei Intellektuellen im Ghetto auf Skepsis.
Sichtlich bewegt, schien Gerd Albrecht bei der Wiederaufführung um eine sehr zurückgenommene Interpretation bemüht. Spannung, die durch dynamische Schattierungen oder ein Ausreizen der Tempi hätte entstehen können, erstickte er durch seine routinierten, knappen Bewegungen.
Wirkliche Nähe ließ auch die Open-Air-Akustik und das Wetter nicht aufkommen: Windgeräusche über Lautsprecher, kaum hörbare Kontrabässe und schwankende Holzbläserintonation irritierten. Die Solisten Olga Romanko (Sopran), Liliana Bizineche (Mezzosopran), Aquiles Machado (Tenor) und Simon Yang (Bass) steigerten sich erst zum Ende der Aufführung zu ausbalancierter Harmonie. Schade, daß ihre letzten gemeinsamen Worte mit den ansonsten glanzvoll singendem Prager Kammerchor und dem Tschechischen Philharmonischen Chor Brünn nicht wie ein Flüsterton vernehmbar waren: ‚Libera me‘, befreie mich!
Eine wichtige und symbolkräftige Wiederaufführung, an deren Schluß die spätsommerliche Abendsonne durch die tiefhängende, graue Wolkendecke brach und allen Mitwirkenden ins Gesicht strahlte. Gerd Albrecht überreichte beeindruckten Theresienstadt-Überlebenden im Publikum weiße Lilien. Eine Versöhnung mit Schatten. Denn warum hatte ausgerechnet diese Aufführung ganz ohne Beteiligung jüdischer Künstler stattgefunden? Warum hatte niemand an der Erinnerungstafel vor dem Probenkeller Rafael Schaechters ‚in memoriam‘ einen Blumenstrauß gespendet? Und warum sollten sich nach den Worten Gerd Albrechts ausgerechnet hier Deutsche und Tschechen näherrücken? Deutsche, die Theresienstadt-Überlebenden bis heute keine Rente und Entschädigung zahlten. Und Tschechen, die ihre Rolle bei nationalsozialistischen Verbrechen im Land immer noch tabuisieren.