Im Jahr 2005 vereinigten sich der Deutsche Allgemeine Sängerbund und der Deutsche Sängerbund zum Deutschen Chorverband (DCV), dem größten Musikverband in Deutschland, mit Henning Scherf als Präsidenten. 2007 zog die Geschäftsstelle von Köln nach Berlin um. Seither ist viel Bewegung im Verband wahrzunehmen. Barbara Haack sprach für die nmz mit den beiden Geschäftsführern des DCV, Veronika Petzold und Moritz Puschke über Pläne und Projekte.
neue musikzeitung: Der Deutsche Chorverband hat sich in den letzten Jahren neu aufgestellt: personell und strukturell. Warum war das nötig?
Moritz Puschke: Wenn zwei Tanker zusammenschmelzen, braucht es eine neue Identität, ein neues Leitbild, und es bewegt sich auch im personellen Bereich eine Menge. Wir haben Strukturen vorgefunden, die nicht dem modernen Managementgedanken entsprachen. Der Verband hatte zu dieser Zeit kulturpolitisch und fachlich nicht viel vorzuweisen. Er war auch finanziell-betriebswirtschaftlich in einer desolaten Situation. Mit dem Umzug war also auch ein sehr harter finanzieller Konsolidierungskurs verbunden.
Veronika Petzold: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es einen zweiten großen Schub in der bürgerlichen und in der Arbeiter-Sängerbewegung, der nach dem 2. Weltkrieg aufgrund des massenhaften Missbrauchs, der mit dem Chorgesang getrieben wurde, radikal zusammengebrochen ist. Danach hat sich der Deutsche Sängerbund nicht wieder an die Spitze einer musikalischen wie gemeinschaftlichen Initiative gestellt, sondern nach innen gewandt und mit sich selbst beschäftigt. Wir wollen dem Verband heute ein neues – auch politisches – Selbstbewusstsein verschaffen und in die Gesellschaft hinein wirksam werden.
Puschke: Auch unsere Basis verändert sich: Es gibt viele junge und neue Chöre und Projekte, die unsere Verbandsstrukturen als althergebracht empfinden. Da etabliert sich eine völlig neue Szene, die von einem Dachverband eine andere Identität, neue Projekte und eine kompetente Fachlichkeit erwartet.
nmz: Sie erweitern Ihr Verbandsportfolio derzeit vom reinen Verband hin – auch – zum Dienstleister für Ihre Mitglieder. Wie sieht es aus mit der Mitgliederentwicklung?
Puschke: Aktuell sind wir bei zirka 1,6 Millionen: 700.000 aktive Sängerinnen und Sänger und gut 900.000 fördernde Mitglieder in etwa 20.000 Vereinen mit knapp 28.000 Chören. Bis vor 4 Jahren gab es einen stetigen Rückgang. Seit 4 Jahren haben wir eine positive Stagnation: Es gibt genauso viel nachwachsende wie wegbrechende Chöre. Das empfinden wir bei der Struktur unserer Gesellschaft als Erfolg.
Petzold: Der Wandel, den wir vollziehen, geht weg von einer Vereinsverwaltung hin zu einer Chorbewegung, die sich den Inhalt auf die Fahnen schreibt und nicht die Struktur. Wir beschäftigen uns mit der Frage: Wie können wir das Singen – das im Moment einen enormen Aufschwung erlebt – in die öffentliche Wahrnehmung bringen?
Symbol für den Neuanfang
nmz: Welche Rolle hat bei der Neustrukturierung der Umzug von Köln nach Berlin gespielt?
Puschke: Eine ganz Erhebliche. Der Umzug war im Verband heftig umstritten und wurde 2007 mit einer Vertrauensfrage des Präsidenten verbunden. Der Umzug symbolisierte auch den Neuanfang, die Reform des Verbandes. Nach fast drei Jahren, die wir jetzt hier in Berlin sind, kann man sagen, dass diese Reform gelungen ist.
Petzold: Wir wollen außerdem aktiv Chormusik in der Hauptstadt zeigen. Wir haben deshalb ein neues Festival mit dem Namen CHOR@BERLIN entwickelt, das vom 13. bis 16. Januar im Berliner Radialsystem stattfindet. Wir wollen dort die Vokalmusik in ihrer gesamten Vielfalt zeigen. Wir präsentieren uns damit als Dachverband in der Hauptstadt und setzen ein kulturpolitisches Signal.
nmz: Eine weitere Großveranstaltung ist die chor.com, die im September in Dortmund stattfinden wird. Was sollte Verlage veranlassen, dort auszustellen? Was ist neu am Konzept der chor.com?
Puschke: Uns ist bei den Streifzügen durch die Frankfurter Musikmesse und andere, neuere Messen aufgefallen, dass es dort keine singende oder chorische Identität gibt. Es gibt aber 2,4 Millionen Menschen in Deutschland, die singen. Wieso sollen die keinen Branchentreff haben? Wir sehen es als unseren Auftrag, so etwas zu organisieren: ein Fachforum, einen Chorleiterkongress, Best Practice-Modelle und ein spannendes Festival mit Konzerten in der Stadt Dortmund. Die Verlage möchten wir herausfordern: Es geht natürlich auch um einen Messe-Stand, aber darüber hinaus gibt es die Möglichkeit, sich fachlich zu präsentieren. Die Verlage können Dozenten und Workshops einbringen, und wir bieten dafür die Plattform, einen Marktplatz der Ideen, der von uns thematisch sortiert und strukturiert wird. Von der Gregorianik bis zum HipHop wird alles dabei sein. Hauptzielgruppe unter den Besuchern sind Chorleiterinnen und Chorleiter. Wir erwarten um die 1.000 Fachteilnehmer in diesen 4 Tagen. Die chor.com richtet sich aber auch an Chorbegeisterte, an Chormanager und an Familien. Deshalb wird es ein buntes musikalisches Messeprogramm geben. Simon Halsey, der Chef des Rundfunkchores Berlin, wird vier Tage lang dort sein. Er wird mit dem Rundfunkchor arbeiten, er wird aber auch mit 1.500 Sängerinnen und Sängern ein Brahms-Requiem zum Mitsingen für alle aufführen. Es geht darum, eine gemeinsame Identität für das Singen in Deutschland zu schaffen.
Petzold: Wenn die Chöre keine neue Literatur bekommen, dann ist auch eine musikalische Entwicklung nur bedingt möglich. Die Verlage haben natürlich ein großes Interesse, einerseits ihre Neuheiten anzubieten, andererseits aber auch darüber aufzuklären, was den sorgsamen Umgang mit dem Gut des Verlags anbelangt. Wir werden also auf der chor.com auch die heiklen Themen wie Urheberrecht oder Kopierrecht debattieren. Die chor.com richtet sich im Übrigen nicht nur an den Deutschen Chorverband und seine Mitglieder, sondern ist für die ganze bundesdeutsche Chorszene gedacht.
Puschke: Wir organisieren die chor.com in Kooperation mit der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Chorverbände (ADC), also mit den beiden kirchlichen Verbänden, aber auch mit dem IAM, AMJ, VDKC. Wir haben eine hohe Chordichte in der Region, nicht zuletzt auch durch die Chorakademie Dortmund; unser NRW-Landesverband ist der mitgliederstärkste Landesverband und wird sich mit einer eigenen Chorleiterfortbildung und einem Sing-and- Swing-Festival für die ambitionierten Jazz- und Popchöre einbringen.
Wettbewerb „Gebt uns Noten.“
nmz: Es gibt außerdem auch einen Kompositionswettbewerb…
Puschke: Die Jazz- und Popchorszene in Deutschland wird immer stärker. Diese Formationen brauchen gute Literatur. In Deutschland gibt es da relativ wenig. Wir haben daher in Kooperation mit dem Helbling Verlag und der Universität der Künste Berlin den Wettbewerb „Gebt uns Noten!“ ausgeschrieben. Die Idee: Junge Musikstudenten, junge Arrangeure sollen auf einem mittleren Schwierigkeitsgrad für das genannte Genre Literatur schaffen. Die werden wir dann in Dortmund zur Aufführung bringen und die Besten küren.
Petzold: Das Beispiel zeigt, wohin wir wollen: Ein gemeinnütziger Verband kooperiert mit einem Fachverlag und mit den Hochschulen, die ja dafür Sorge tragen, dass wir auch in Zukunft gut ausgebildete Chorleiter haben.
Puschke: Ein Teil der aufstrebenden Szene sind die schon genannten Chöre aus dem Jazz- und Popbereich. Ein anderer Teil sind gemischte Chöre, die sich neu gründen, die ein weites Spektrum abdecken von Monteverdi bis zur Neuen Musik. Lange Zeit schien Neue Musik für Laienchöre überhaupt nicht aufführbar zu sein. Da muss man sich weit strecken, um überhaupt durch die Partitur zu kommen, und es wird meist mit einem relativ kleinen Publikum belohnt. Inzwischen gibt es viele junge Komponisten aus Skandinavien, aus dem Baltikum oder aus den USA, die populär schreiben, manchmal an der Grenze zum Kitsch, aber vielfach auch sehr bewegend und mit sehr vielen Elementen zeitgenössischer Musik. Das ist Musik, die auch von mittleren Laienchören aufgeführt werden kann. Wir kommen mit der Neuen Musik vom Elfenbeinturm runter in die Breite. Auch das wollen wir auf der chor.com zeigen.
nmz: Sie haben schon angesprochen, dass im Dritten Reich großer Missbrauch mit der Singbewegung getrieben wurde. Das war mit ein Grund dafür, dass dem Singen vor allem in größeren Gruppen in den 60er- und 70er-Jahren mit Misstrauen begegnet wurde – auch solchen Veranstaltungen wie zum Beispiel dem Deutschen Chorfest, das ja 2012 wieder stattfinden wird, diesmal in Frankfurt. Sehen Sie da heute noch eine Gefahr?
Puschke: Die Gefahr ist auf jeden Fall vorhanden. Es gibt diese Vorbehalte noch. Aber dass eine Gefahr besteht, heißt nicht, dass man sich scheuen sollte, aktiv zu sein. Volkslieder zum Beispiel sind gut, phantastisch geschrieben, zeitlos. Sie haben tolle, häufig sehr freiheitlich orientierte Texte, und sie machen Kindern und Erwachsenen Spaß. Sie gehören zu unserem Kulturgut. Wir müssen natürlich auch kritisch gucken: Was ist instrumentalisiert worden im Dritten Reich? Wo sind Grenzen? Wir haben es ja weggeschwiegen. Dass die Menschen auch in größeren Gruppen gerne gemeinschaftlich singen, ist aber ganz natürlich.
Petzold: Auch hier haben wir wieder das Phänomen von verkopfter, verklemmter deutscher Selbstaufarbeitung. Die Adorno-Nachfolge hat uns ja Generationen von Musiklehrern beschert, die halbe Pianisten sind, aber mit ihrem eigenen Stimmorgan nicht umgehen können. Man sollte die Augen aufmachen und sehen, was es eigentlich in den Chornationen um uns herum gibt. Wir haben heute im Baltikum große Festivals, wo Zigtausende in großen Stadien gemeinsam singen, wo das Singen ein Kulturgut des Volkes im besten Sinne des Wortes ist.
Puschke: Die Universität Würzburg hat von uns einen Forschungsauftrag erhalten: es geht um die Aufarbeitung unserer Geschichte. Parallel dazu fragen wir: Was sind die Phänomene des großen, auch gemeinschaftlichen Singens? Was ist daran international, völkerverständigend, verbindend? Wir trauen uns das. Beim Chorfest 2012 werden wir in der Frankfurter Festhalle ein großes Mitsingkonzert machen, ein Konzert mit 10.000 Aktiven. Da werden wir sehen, wie weit wir gehen können.