Halle. Ein knallig-bunter, hauptsächlich in Orange und mit leuchtenden Rot-Tönen angemalter Truck war der heimliche Star der Musiklehrer und gleichzeitig so etwas wie das Ziel vieler Träume. „Hätten wir doch auch so etwas, wir würden uns in vielen Dingen der musikalischen Erziehung leichter tun“, formulierte Hartmut Reszel vom Institut für Musikpädagogik an der Martin-Luther-Universität in Halle an der Saale stellvertretend einen freilich kaum erfüllbaren Herzenswunsch. Der Jamtruck von der Folkwang Musikschule aus Essen, der drei Tage lang vor dem Tagungsgebäude des 42. Bundeskongresses für Musikpädagogik des Arbeitskreises für Schulmusik (AfS) sein Innenleben offenbarte, steht stellvertretend wie kaum etwas anderes für neue Ansätze in der kreativen Musikerziehung.
Musik gab’s reichlich in allen Ecken und Enden des komplett mit einem Tonstudio eingerichteten Trucks – allerdings keine Rolling Stones, keine Madonna und kein Till Brönner, sondern ausschließlich selbst erfundene Melodien und Texte. Mit allen denkbaren und gewollten Ecken, Kanten und Holprigkeiten. „Seit einem Jahr ist der Jamtruck auf einer genau festgelegten Route durch Essen unterwegs. Vormittags an allgemeinbildenden Schulen, nachmittags an sozialen Brennpunkten der Stadt“, erklärt Projektleiter Herbert Schiffer sein Mobil, das ohne öffentliche Gelder, dafür durch die Mercator-Stiftung mit 1,8 Millionen Euro finanziert wurde. Ein halbes Jahr lang haben Jugendliche ohne musikalische Vorkenntnisse die Chance, ohne stilistische und politische Grenzen ihre Ideen bis hin zu einer selbstgestalteten CD zu verwirklichen. „Obwohl wir mit vielen Texten zunächst berechtigte Bauchschmerzen haben, eine Zensur gibt es trotzdem nicht. Wir sind noch nie enttäuscht worden, die Bands klären das am Ende unter sich“, sieht sich Schiffer auch im sozialen Anliegen seines Modells bestätigt. Parallel zum halbjährigen Truck-Leben gibt’s auch eine Lektion in Sachen Teamfähigkeit und Zuverlässigkeit. Schiffer: „Die Bands kommen nur in vollständiger Mannschaftsstärke in den Truck oder aber gar nicht. Am Ende setzt niemand den Erfolg aufs Spiel.“
Und damit war der Jamtruck schon ganz nah am Leitmotiv des Kongresses in Halle: Musik als Geschenk aufzufassen, der Kreativität eine Chance zu geben. Der während des Eröffnungsforums geäußerte fromme Wunsch, dass Musik nichts zu suchen hat in einem System, in dem es ausschließlich um Benotung geht, stand Pate. „Es gibt gute und schlechte Musik. Vorschnelle Urteile sind nicht die Aufgabe von uns Musikpädagogen. Vielmehr sind Aufgeschlossenheit, Diskussionsbereitschaft und Interesse gefragt“, formuliert es Hartmut Reszel. „Wir Lehrer müssen Alters- und Geschmacksunterschiede außen vor lassen und haben dennoch immer wieder die Nuss zu knacken, dass wir aktuellen Musiktrends hinterherhinken“, so Reszel über den schwierigen Balanceakt zwischen Distanz und Nähe. Die komplette Lehrerschaft hat ebenso wie das Elternhaus immer erst mit Ablehnung auf neue Musiktrends reagiert. Das war in den Anfangsjahren eines Frank Zappa so, das gab es sogar bei einem Michael Jackson mit dem berühmten Ausspruch „Keep the school clean“. „Dennoch“, so Reszel, „werden wir Musikpädagogen auch in Zukunft nicht unsere Zelte in der Musikabteilung des Saturn-Kaufhauses aufstellen.“
50 Jahre populäre Musik in der Schule war das übergreifende Thema des Kongresses in Halle. Die Rockklassiker kamen in den 170 Foren und Workshops zu ihrem Recht, aber mehr als jemals zuvor auch die musikalischen Eintagsfliegen und schwierigen Randgebiete mit Sex und Erotik, um Jane Birkins Stöhnklassiker „Je t’aime moi non plus“. Auf glattem Eis bewegte sich dann auch der Kölner HipHopper Hannes Loh in zwei überfüllten Kursen. „Ich kann bis heute keine einzige Note lesen“, bekannte Loh und fühlt sich trotzdem nicht unwohl im Reich der Musikpädagogen. Denn er habe bewusst den Weg „einer provokanten Gegenkultur gewählt“, die sich zu großen Teilen auch auf der Textseite abspielt. Nach eigener Musikerkarriere hat er nun praktisch das Ufer gewechselt und ist als Deutsch- und Geschichtslehrer Ansprechpartner. „Ich will Gipfel und Abgründe des musikalischen Erzählens aufzeigen, aber auch warnen vor Sexismus und Rassismus“, umschreibt Loh seine Aufgabe. Ein Lehrer, so seine Maxime, darf dabei nicht aufdringlich sein, er muss zuhören können und diskussionsbereit sein. „Musik findet im realen Leben statt. Die Zeiten, wo Schüler nur deswegen eine Eins im Musikunterricht bekamen, weil sie gut singen oder Noten lesen konnten, sollten vorbei sein“, appelliert auch Loh an die Kreativität im Musikunterricht und fächerübergreifend darüber hinaus.
Loh und die heutige Generation von Musikpädagogen oder musikalischen Ansprechpartnern haben dabei den Vorteil, auf ausreichende Literatur zurückgreifen zu können. Anders als Ilse Storb, die einzige Professorin für Jazzforschung in Europa, die in den frühen 70er-Jahren ihre Veröffentlichungen förmlich aus dem Nichts heraus leistete oder Hartmut Reszel, der in Halle an der Saale ein wissenschaftliches Werk über westliche Rockmusik ohne Zugang zur Fachliteratur jenseits der Mauer verfasste. „Das sind heute ja geradezu paradiesische Zustände“, schwärmt die inzwischen 80-jährige Ilse Storb nach einem Rundgang durch die Verlagsausstellung in der Händelhalle. Einer der Renner dabei die unter anderem von Reszel veröffentlichten „Songs Unlimited“ in den Verlagen Schott und Klett. Ein breites Spektrum zwischen „Singing in the Rain“ bis hin zu den „Winds of change“ der Scorpions oder aktuellen Werken der Ärzte ist die Grundlage für einen abwechslungsreichen Unterricht an den Sekundarschulen. „Wir haben uns bewusst ein unverbrauchtes Repertoire für instrumentale und vokale Klassenarrangements und Rhythmuspatterns herausgesucht. Stilistische Grenzen gibt es nicht“, erklärt Reszel während seines praxisnahen Workshops. Damit schließt sich dann schon fast wieder der Kreis zum zentralen Thema des Musikpädagogen-Kongresses: Hauptsache, es ist Musik.