Jedes Jahr im September wird München zum Schauplatz kleiner Tragödien: Beim ARD-Musikwettbewerb trennt sich in vier, jährlich wechselnden Kategorien die Spreu vom musikalischen Weizen. Wettbewerbe sind für junge Musiker immer eine Herausforderung fürs Nervensystem, München jedoch ist ein besonders hartes Pflaster: Zeitgenössische Musik zählt zum Pflichtprogramm – Mauricio Kagel, Peteris Vasks, Thomas Larcher und Katia Tchemberdji lieferten diesmal Auftragswerke –, erste Preise werden in der Regel nur in den seltensten Fällen vergeben. Doch jede Regel hat ihre Ausnahmen, wie die heurige Endausscheidung unter Beweis stellte.
Bereits die Statistik spricht eine eindeutige Sprache: 467 Bewerbungen aus 51 Ländern – eine Zahl, die an sich schon staunen macht, und der Beginn eines komplexen Auswahlverfahrens. Nach vier Tonband-Vorrunden wurden lediglich 208 Kandidaten in die Metropole an der Isar eingeladen. 48 Jurorinnen und Juroren hatten dann über Wohl und Weh der bunt gemischten Eleven-Schar zu urteilen. Und natürlich platzten auch heuer wieder Karriereträume wie die sprichwörtliche Seifenblase: kein Glamour, keine Plattenverträge, kein Jet-Set durchs musikalische Fegefeuer der Eitelkeiten. Auch beim 52. ARD-Musikwettbewerb war Dabeisein eben nicht alles. Gerade 17 junge Musiker erreichten das Finale. Doch, und das ist das wirklich Erstaunliche an der diesjährigen Endausscheidung: Der Daumen der Juroren ging heuer so oft nach oben wie selten zuvor. Insgesamt wurden 14 Preise vergeben – davon in den Kategorien Trompete und Kontrabass jeweils ein erster Preis, im Fach Gesang sogar zwei erste. Nur die Klarinettisten mussten sich zur Gänze mit Zweit- und Drittplatzierungen zufrieden geben. Erstaunlich, denn im Regelfall geizt der ARD-Musikwettbewerb mit Auszeichnungen wie Alberich mit Gold. Sind Jugendliche heute musikalischer denn je? Sind die Sorgen um den Klassik-Nachwuchs endlich Schnee von gestern? Die vielen guten Platzierungen legen das jedenfalls nahe. Zumal in der, traditionell mit Argus-Augen verfolgten Kategorie Gesang übertraf die Gewinnausschüttung alle Erwatungen – sämtliche sieben Finalisten wurden ausgezeichnet.
„Wer das technische Rüstzeug nicht mitbringt, braucht gar nicht anzutreten“, erklärte Siegmund Nimsgern, als ich ihn danach fragte, ob Technik oder Musikalität für die Juroren im Fach Gesang ausschlaggebender sei. Auch Thomas Quasthoff meinte zur Süddeutschen Zeitung: „Nur schön singen reicht mir nicht.“ Es tut gut, das aus so berufenem Munde zu hören: Beide Sänger konnten die renommierte Auszeichnung selbst erkämpfen – Nimsgern 1966, Quasthoff 1988 –, beide saßen diesmal unter den Juroren. Konnten sie sich in den Jurysitzungen gegen ihre Kollegen Klaus Schultz, Dame Gwyneth Jones, Francisco Araiza, Helmut Deutsch, Daphne Evangelatos, Roberto Saccà und Edith Wiens nicht durchsetzen? Mit Marina Prudenskaja wurde einer dramatischen Mezzostimme mit Koloratur der erste Preis verliehen, die Arien von Rossini und Verdi technisch sauber, doch neutral im Ausdruck und mit vokalen Kraftakten realisierte, die einen um ihre Stimmbänder fürchten ließen. Erst der Blick ins Programm verriet, dass sie aus Russland stammt. Wesentlich stärker war die typisch russische, gutturale Tongebung bei Julia Sukmanova zu hören. Ihre nicht ganz idiomatische Textgestaltung in Arien von Weber und Verdi dürfte für die Jury stärker ins Gewicht gefallen sein als der individuelle Stimm-Klang – sie musste sich mit einem dritten Platz begnügen.
Voluminöse Töne und freundliche, etwas glatte Professionalität wurden auch bei ihren männlichen Kollegen belohnt. Zeichen dafür, dass der musikalische Nachwuchs den Gesetzen zunehmender Globalisierung unterworfen ist?
Nimmt man die Länderstatistik genauer ins Auge, lassen sich die Belege hierfür schnell zitieren: Aus den klassischen Gesangschulen Europas kamen die wenigsten Vertreter. Unter den 89 Sängern, die nach München eingeladen wurden, stammten zwei aus Italien, aus Frankreich und Spanien nicht ein einziger. Immerhin 20 Prozent kamen aus Deutschland, mit satten 35 Prozent war Korea am stärksten vertreten. Tatsächlich erreichten mit Gérard Kim und Günter Papendell Vertreter der beiden Länder das Finale. Nun könnte man diesen Umstand schnell mit dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit erklären. Aber das wäre zynisch und unfair gegenüber den engagierten jungen Künstlern. Zumal der erste Preis an Gérard Kim ging, einem Verdi-Bariton, der auf der Bühne Charme und Charisma verströmte – auch wenn ihm voll ausgesungene Noten und Show-Effekte noch wichtiger waren als vokale und stilistische Differenzierung.
Doch halt, Schluss mit der Beckmesserei! Als der Kanadier Tyler Duncan Guglielmos „Rivolgete a lui lo sguardo“ mit sensibler Tongebung und der für Mozart unabdingbaren Mischung aus Einfachheit und Euphorie sang, verstummte selbst das Grollen leidenschaftlicher Melomanen, weil klar wurde: Musik öffnet und reflektiert menschliche Dimensionen. Sie ist nicht primär eine Möglichkeit zu zeigen wie makellos man schon in jungen Jahren die schwierigsten Stücke bewältigt. Nicht alle Juroren ließen sich davon erweichen, Duncan wurde „nur“ Dritter. Schade, dass er nicht hörte, was Siegmund Nimsgern mir verriet: „Letztlich kommt es auf die Persönlichkeit an, ein erster Preis zählt wenig.“