Der alte Brandenburgische Landtag in Potsdam: nicht weit vom Hauptbahnhof, ein Gebäude aus dunkelrotem Backstein, in der Mitte ein Turm, der zu den Wahrzeichen der Stadt gehört. Breite Treppen führen nach oben, schmiedeeiserne Geländer, an den Wänden verschmierte Malereien von Kinderhänden, links und rechts lange, leere Flure. Auf einem Treppenabsatz dreschen zwei Halbwüchsige einen Fußball gegen die Wand, sonst keine Spur von den mehr als 360 Geflüchteten, die hier leben. Ganz oben geht’s in den ehemaligen Plenarsaal. Hohe, schmale Fenster mit hellen Vorhängen, an den Seiten stehen noch die Tische der Abgeordneten.
Die Geigerin Marie Kogge, freundliches Gesicht – kurzgeschnittene graue Haare, energische Bewegungen – stellt Stühle im Halbkreis auf und verteilt Pappschilder mit farbigen Notenköpfen auf Pulte. Lieder sind darauf, „Ein Männlein steht im Walde“, „Tik, tik, tik“, ein populäres arabisches Kinderlied, „Laili jan“ aus Afghanistan. Nach und nach trudeln Kinder ein, manche haben einen Instrumentenkasten in der Hand, andere greifen nach den bereitliegenden Geigen und Gitarren. Zwei kleine Mädchen gesellen sich zu Alaa Abboud, einem der beiden syrischen Musiker, die Marie Kogge zur Seite stehen.
Aufmerksam beobachten sie die Bewegungen seiner Finger auf dem Griffbrett, versuchen auf ihren winzigen Geigen nachzumachen, was er ihnen vorspielt. Die Tür fliegt auf, ein Junge im geringelten Pulli stürmt herein und wirft sich Alaas Bruder Meyhar in die Arme, der ihn durch die Luft wirbelt, bis er laut juchzt. Gekicher, Stimmengewirr, quietschende Geigentöne, ein ohrenbetäubendes Durcheinander. Marie Kogge packt ihre eigene Geige aus. „Musik, Musik, wir machen hier Musik“, singt sie, ein Ritual in jeder Stunde. Die Kinder stimmen lauthals ein, streichen leere Saiten auf Geigen und Celli, zupfen die Gitarre. Strahlende Gesichter.
Was die Mädchen und Jungen durchgemacht haben, lässt sich allenfalls erahnen: Krieg, Zerstörung, der Tod von Verwandten und Freunden, schreckliche Bilder, die sich in ihr Gedächtnis eingebrannt haben müssen. Marie Kogge und ihre Kollegen sprechen sie nicht darauf an. „Wenn man jemandem helfen möchte, ist es das Beste, nicht darüber zu reden“, sagt Hiba Obayd. Die 26-jährige Schauspielerin, die ihrem Mann vor neun Monaten aus Aleppo nach Deutschland nachreiste, hat diese Erfahrung selbst gemacht: „Ich spreche nicht oft darüber, so kann ich zumindest zeitweise diese schlimmen Dinge vergessen und mich auf mein neues Leben konzentrieren.“ In Syrien hat sie in vielen theaterpädagogischen Projekten gearbeitet, hier kümmert sie sich um die Kleinsten, um die, die noch kein Instrument halten können, die zu unruhig oder zu unkonzentriert sind. Sie bewegt sich im Rhythmus, klatscht, schwingt bunte Tücher.
Die Kinder und Jugendlichen aus ganz verschiedenen Kulturen, aus Syrien, Afghanistan, dem Irak, Tschetschenien, und aus unterschiedlichen Altersgruppen unter einen Hut zu bringen, ist eine der größten Herausforderungen für Marie Kogge, freischaffende Geigerin und Leiterin der beiden Schulorchester an der Waldorfschule Potsdam. „Viele haben große Schwierigkeiten, bei der Sache zu bleiben“, erklärt sie, „da braucht man viele helfende Hände und wache Geister, die aufpassen, wenn einer mit dem Instrument ausbüxt oder überhaupt nicht weiß, wie er die Gitarre anfassen soll.“
Positive Erlebnisse als Kraftquelle
Sie arbeitet mit einem vereinfachten Notensystem. Der Rhythmus ist in herkömmlicher Weise notiert, den einzelnen Saiten der Instrumente sind unterschiedliche Farben zugeordnet. Jetzt verteilt Marie Kogge Notenblätter mit einem neuen Lied, „Vom Aufgang der Sonne“. Einige Mädchen greifen nach bunten Stiften und malen die Noten in den Farben der verschiedenen Saiten an. Währenddessen übt eine Gruppe von Gitarristen den Rhythmus des Liedes, und Meyhar, der sich in Syrien selbst das Cellospielen beigebracht und sogar die Aufnahmeprüfung am Konservatorium in Homs bestanden hat, zieht sich mit den beiden Cellisten in eine Ecke zurück, sie probieren Fingersätze aus. Ein Mädchen hat sich die bunten Tücher geschnappt und flitzt damit durch den Raum.
Die Musik soll den Kindern helfen, zu sich selbst zu finden, ihre Unruhe abbauen, ihre Konzentrationsfähigkeit fördern, ihre sozialen Kompetenzen und ihr Selbstbewusstsein stärken, das Verständnis für die fremden Kulturen in ihrer Umgebung wecken, ihnen positive Erlebnisse und seelische Kraft vermitteln. Das ist die Idee des Projekts „MitMachMusik“ und des Vereins, der seit April dieses Jahres dahintersteht. Prominente Unterstützer sind dabei: der Kinderarzt Peter Hauber, einer der Initiatoren, bekannt durch sein Engagement für die Organisation „Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs“ (IPPNW); der Unternehmer Peter Kuttner, der sich seit langem um Geflüchtete kümmert; Pamela Rosenberg, ehemalige Intendantin der Berliner Philharmoniker, die ihre Erfahrung nutzt, um Spenden einzuwerben und Anträge an Stiftungen zu stellen. In vier Flüchtlingsunterkünften in Berlin und Potsdam finden zweimal in der Woche Musikstunden statt, und ohne finanzielle Mittel geht es nicht: Die Lehrer, die ehrenamtlich angefangen haben, werden bezahlt, schließlich soll das Projekt keine Eintagsfliege sein, sondern langfristig und kontinuierlich laufen; außerdem müssen Instrumente gekauft oder gemietet werden. Die Bereitschaft, die verstaubte Geige vom Dachboden zu spenden, ist zwar groß, aber ein Viertelcello oder eine halbe Geige, wie sie für die Jüngeren benötigt werden, finden sich selten unter den großzügigen Gaben.
Die Kinder, die schon länger dabei sind, dürfen ihre Instrumente mit aufs Zimmer nehmen und bekommen Einzelstunden. Sie beim Üben zu unterstützen und zu ermutigen, ist für viele Eltern ebenso ungewohnt wie die Instrumente selbst, und doch, sagt Marie Kogge: „Fast alle verstehen, dass in dieser Musik für die Kinder eine große Chance liegt, und nehmen das sehr ernst.“ Viele Frauen aus Afghanistan etwa, so ihre Erfahrung, haben nie eine Schule besucht, sind Mütter geworden, als sie selbst fast noch Kinder waren, haben verinnerlicht, dass ihnen Musik verboten war, „aber ausnahmslos alle, die ich kennengelernt habe, freuen sich, dass ihren Töchtern diese Möglichkeiten offenstehen“. Um die Eltern mit ins Boot zu holen, werden die Familien regelmäßig zu kleinen Konzerten eingeladen, bei denen sie bewundern, was die Kinder gelernt haben und auch selbst mitsingen und tanzen können. Und derzeit ist ein Chor eigens für die Frauen im Aufbau, die so im geschützten Rahmen die Musik für sich entdecken können.
Einen eigenen Blick auf die Dinge entwickeln
Die Musikstunde neigt sich dem Ende zu. Marie Kogge sammelt die Notenblätter ein, verstaut die Instrumente, verteilt bunte Glitzerbildchen an die, die besonders gut mitgemacht haben. In die Geräusche des Aufbruchs, das Ratschen der Reißverschlüsse von Geigenkästen, das „Tschüss, Marie!“, das Trappeln der Kinderfüße, mischen sich unversehens Geigentöne: Alaa Abboud und zwei kleine Jungen spielen eine wilde Musik, unbekümmert um technische Schwierigkeiten. Hämmerndes Staccato, jaulende Glissandi, wie elektrisiert fiepende Töne, es klingt nach einer Mischung aus Folk und Techno. „Ich bin glücklich, wenn ich sehe, dass die Kinder etwas Neues ausprobieren“, hat Alaa vor Beginn der Stunde gesagt, „wenn sie nicht einfach in der Sphäre ihrer Eltern bleiben, wo sie sich daran gewöhnt haben, um alles kämpfen zu müssen, um Essen, um Raum, einfach um alles. Als wir angefangen haben, waren sie wie ihre Eltern, und jetzt haben sie ihren eigenen Blick auf die Dinge. Das gefällt mir.“ Er lächelt.
Ortswechsel: von Potsdam nach Berlin, aus dem alten Landtagsgebäude in die Alte Nazarethkirche im ehemaligen Arbeiterbezirk Wedding. Ein mächtiger Schinkel-Bau, orientiert an der italienischen Romanik. Im Erdgeschoss ist eine Kindertagesstätte; in den Gemeindesaal, wo auch die Gottesdienste stattfinden, geht es über eine schmale Treppe. Hier probt der Hoffnungschor, jeden Freitag um 18 Uhr. Dani Alor, schmales Gesicht, halblange Haare, geht voran. Er ist immer früher da als die anderen, klappt den Flügel auf, macht mit den ersten, die kommen, Stimmübungen. In Damaskus hat er sein Studium als Opernsänger angefangen, Countertenor, kam erst nach Frankreich, dann nach Deutschland. In Berlin traf er Alaa Zaitounah, den und in seiner Heimatstadt im Süden Syriens ein bekannter Musiker. Sie sind zusammen aufgetreten, im thüringischen Pößneck, in Schwerin, in Dresden, in Berlin. Und sie hatten eine Idee: etwas zu tun für die Flüchtlinge, die traumatisiert und untätig in ihren Notunterkünften sitzen. Sie gingen in das Camp im ehemaligen Flughafen Tempelhof, sangen, stellten ihre Idee vor, einen Chor zu gründen. Das Interesse war groß, erzählt Alaa, aber die Bedingungen ließen zu wünschen übrig: „Wir probten in der Küche, wo die Leute essen und trinken, das war nicht gut.“ Ein Ausweichquartier fanden sie zunächst in der Martin-Luther-Kirche in Berlin-Schöneberg und dann hier im Wedding. Und die Idee ist größer geworden: Aus der Beschäftigungstherapie für die Geflüchteten wurde ein Völkerverständigungsprojekt, das arabische und deutsche Kultur zusammenbringt.
Der Gemeindesaal hat sich gefüllt, mittlerweile stehen 13 Sängerinnen und Sänger im Halbkreis um den Flügel herum, im Hintergrund sitzt eine Gruppe von Instrumentalisten, Gitarre, Oud, Geige, Querflöte, drei Perkussionisten, auf einem Stuhl liegen Blätter mit arabischen Schriftzeichen und Transkriptionen in lateinischer Schrift. Dani beginnt mit Lockerungsübungen, tief ein- und ausatmen, Arme ausschütteln, Seitbeugen. Immer wieder schwingt die Tür auf, schlüpft noch jemand in die Reihe der Sänger, Umarmungen, Küsschen. Und dann: Summen, langgezogene Vokale, schwere, schleppende Trommelrhythmen, eine zweite Stimme, die Melismen lassen einen Hauch von Orient durch den Kirchenraum wehen. Die Rhythmen werden schneller, Hüften schwingen im Takt. Dani klopft ab, sagt etwas auf Arabisch. Gelächter.
Am Anfang kostet es schon Überwindung, in dieser fremdartigen Sprache zu singen, sagt Brigitte Kellermann, von Beruf Sonderpädagogin. In ihrer Freizeit engagiert sie sich in einer Willkommensinitiative in Oranienburg. „Bei der ersten Probe habe ich nicht mitgesungen, sondern das Ganze nur auf mich wirken lassen. Ich dachte, wenn mich einer hört, wie ich arabisch spreche, lacht er sich kaputt.“ Aber, so der tröstende Gedanke: Den syrischen Kollegen geht’s ja auch nicht besser, wenn deutsche Lieder gesungen werden.
Beide Kulturen zu verschmelzen, ist das Ziel der beiden Chorleiter. Und so erklingt nun die altbekannte Melodie der „Ode an die Freude“ mit einem arabischen Text, begleitet von Darbuka und Oud. Unversehens erscheint auch das Vertraute in ungewohntem Licht; eine Begegnung der Kulturen auf mehreren Ebenen. „Die Deutschen integrieren die Flüchtlinge“, sagt Alaa. „Und wir integrieren die Deutschen.“ Er lacht. Das Singen ist das eine, das andere die Gemeinschaft. „Ich habe hier meine Familie gefunden“, so drückt es Nour Eddin Raadan Alhomsi aus, auf Englisch. „Wenn ich Hilfe brauche, kann ich jemanden aus dem Chor ansprechen und er wird mir helfen, es ist wirklich wie eine große Familie.“ Der 19-jährige Student der Elektrotechnik ist im vergangenen Jahr aus Damaskus geflohen, er kannte niemanden hier, erzählt er. Mit der deutschen Sprache klappt es noch nicht so gut, aber er hat deutsche Freunde, die ihm helfen – und Helene Fischer. „I like it because she sings langsam“, erklärt Nour Eddin, deswegen könne er die einzelnen Worte verstehen; und außerdem: Ihm gefalle die Musik. Jetzt steht er zwischen zweien seiner Landsleute und singt inbrünstig „Der Mond ist aufgegangen“.
Genug geprobt für heute. Alaa scheucht die Sänger nach draußen, Dani möchte noch ein bisschen mit der Pianistin arbeiten, auf dem Flügel liegen Bach-Noten. Vor der Tür der Alten Nazarethkirche, auf einer der steinernen Bänke, hat sich trotz der kühlen Oktoberluft eine Gruppe von Sängern versammelt, einer hat die Gitarre ausgepackt, ein anderer die Geige, eine junge Frau singt eine arabische Melodie, Passanten werfen neugierige Blicke herüber. „Letzte Woche, als es noch wärmer war, haben wir bis um halb eins zusammengesessen“, bemerkt Brigitte Kellermann. Sie haben geredet, gelacht, gesungen. Wie eine große Familie.