nmz 2000/10 | Seite 28
49. Jahrgang | Oktober
Jeunesses Musicales
„Ich kann nicht!“ gilt nicht
Das Nationale Kinderorchester Venezuela zu Gast in Deutschland
Vor etwa fünfzehn Jahren stieß ich während einer Lateinamerikareise in einem kleinen venezolanischen Ort auf ein Schild: „Fundación Orquesta Sinfónica Juvenil“. Sollte es in diesem Dorf etwa ein Jugendorchester geben? Woher kommen die Instrumente, woher die Lehrer? Und hat diese „Fundación“ womöglich sogar Musikschulfunktion?
Die Antwort auf all diese Fragen erhielt ich erst sehr viel später. Denn auch in Ecuador begegnete ich Menschen, die aus einer Jugendorchesterbewegung kamen. Und in Kolumbien entdeckte ich BATUTA – eine Organisation, die Jugendlichen in Armenvierteln durch das Erlernen eines Instruments eine berufliche Perspektive eröffnet und durch das Orchesterspiel soziale Verhaltensweisen erlernbar macht. Aber immer wieder wurde auf Venezuela verwiesen, das Mutterland dieser Idee. Und immer wieder fiel der Name von Dr. José Antonio Abreu, dem Initiator der Bewegung.
Unvergesslich die Situation in Santa Fé, einem düsteren Vorstadtviertel von Bogotà. Die Direktorin von BATUTA hatte mich mit dem Auto dorthin gebracht. Als wir aussteigen, stürzt eine Gruppe von Jugendlichen auf uns zu, und ich verabschiede mich innerlich schon von Fotoapparat und Brieftasche. Doch sie machen vor meiner Begleiterin halt und begrüßen sie. Und sie fragt, wer von ihnen denn nun Geige und wer Bratsche lernen würde. Dann führt man mich in ein kleines Gebäude mit Überäumen und einem stahlgesicherten Magazin, das alle Instrumente für ein Sinfonieorchester enthält – ein fast surrealistisches Szenario. Und in einem Probenraum steht in großen Buchstaben an der Wand: „Prohibido decir: no puedo“ (Es ist verboten zu sagen „Ich kann nicht“). Dieses Motto ist wie ein Leitmotiv für das ganze Projekt, das durch den unermüdlichen Einsatz von José Antonio Abreu inzwischen in vielen Ländern Lateinamerikas und auch in Asien Anhänger gefunden hat.
Vor zwei Jahren habe ich dann das Kinderorchester und auch zahlreiche andere Jugendorchesterprojekte in Venezuela live erlebt. Der Eindruck war umwerfend: Das nationale Kinderorchester steckt voller Begeisterung und spielt mit unglaublicher Perfektion. In einem Internat für Straßenkinder war ich bei einer Probe dabei. Geprobt wurde das „Halleluja“ von Händel. Ein kleiner Junge fiel mir auf, der mit tiefem Ernst und großer Konzentration seine Geige spielte. Es schien gerade so, als ob nicht er die Geige, sondern sie ihn hielte. Ich erfuhr, dass es sich um ein Straßenkind mit einer schrecklichen Lebensgeschichte handelte. Er hatte durch die täglichen Proben einen neuen Sinn für sein Leben gefunden.
Doch nicht nur der soziale Aspekt dieses Projekts hat mich berührt, auch sein pädagogischer Ansatz ist bewundernswert. Während in Deutschland Kinder, die ein Streichinstrument lernen wollen, viele Jahre lang mit Etüden, Sonatinen und Konzerten im Einzelunterricht aufwachsen, lernen die Kinder in Venezuela ihr Instrument in der Gruppe – mit sinfonischen Werken von Tschaikowsky, Beethoven oder Grieg. Die Ergebnisse sind erstaunlich, die Motivation ist riesengroß. Und ist es nicht geradezu genial, die farbenprächtigsten und populärsten Orchesterwerke der klassischen Literatur für den Einstieg in das Instrumentalspiel zu nutzen? „Aber warum sollen venezolanische Kinder lernen, europäische Musik zu spielen?“, werde ich hier in Deutschland oft gefragt. Antwort eines Venezolaners: „Die Menschen der ganzen Welt haben diese Musik eigenmächtig zum Weltkulturerbe erklärt, sie gehört uns genauso wie euch. Nur kann es sein, dass wir sie mehr lieben als ihr.“ Sollte das etwa wahr sein?
Ich bin glücklich, dass es gelungen ist, hier in Deutschland offene Ohren und Arme für dieses Projekt zu finden, so dass diese Tournee möglich geworden ist. Ich wünsche dem jungen Orchester und seinem Altvater José Antonio Abreu hier bei uns von Herzen Glück und alles Gute.