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Wer sich heute als junger Mensch entscheidet, Komponist zu werden, dem stehen stilistisch alle nur denkbaren Türen offen. Eine große Verlockung und eine ebenso große Verheißung, so scheint es. Kein Kanon drängt den jungen Komponisten in eine stilistische Ecke, kein Materialbegriff sanktioniert gute und ächtet schlechte Werke.
Matthias Pintscher ist 26 Jahre jung und von Beruf Komponist – einer der besten und angesehensten seiner Generation. Er kennt die Gefahren, die Abgründe und die Anreize des Kulturbetriebes, wenngleich sich die – heute schon nicht mehr ganz so junge – Geschichte seiner künstlerischen Biographie geradezu wie die einer Bilderbuchlaufbahn liest. Und doch hat der frühe und heftige Erfolg Matthias Pintscher keineswegs übermütig werden lassen. Fast unbeeindruckt, bisweilen gar etwas erstaunt über den vielfältigen, mittlerweile auch internationalen Zuspruch, arbeitet er kontinuierlich an jenem Phänomen, welches heute mehr denn je Ausdruck höchster Authentizität sein dürfte: an einem eigenen Personalstil. Innerhalb weniger Jahre hat Pintscher, der bereits früh neben ersten kompositorischen Studien und einer instrumentalen Ausbildung auch als Dirigent Erfahrungen gesammelt hat, seine musikalische Sprache gewandelt, verfeinert und beständig daran gefeilt. Und auch wenn die Namen seiner Lehrer – Giselher Klebe, Hans Werner Henze und dann vor allem Manfred Trojahn, bei dem er von 1992 bis 1994 in Düsseldorf studierte – für sich selbst sprechen könnten, so ist doch zuerst die Arbeit an der eigenen kompositorischen Fähigkeit der Träger seines Erfolges.
Stationen
1990 knüpft Pintscher Kontakte zu Henze, der ihn zu den „Cantiere“ nach Montepulciano einlädt; es folgen Einladungen nach Warschau (zu den Weltmusiktagen der ISCM), Hitzacker (wo sein „Zweites Streichquartett“ gleich zwei Preise erhält), Paris ( zum „International Rostrum Of Composers“) und Perugia (zum „Agosto Corcianese“); Peter Eötvös bittet Pintscher als einzigen deutschen Komponisten zum „Klangforum“ nach Wien (wo seine „Metarmofosi di Narciso“ einstudiert werden); die Dresdner Staatsoper hat für 1998, die Salzburger Festspiele für 2001 einen Kompositionsauftrag für ein Musiktheaterwerk erteilt; Pintscher bekommt mehrere Preise und Auszeichnungen (allein drei für die Komposition „Invocazioni“ für sinfonisches Blasorchester, außerdem das Rolf-Liebermann-Stipendium für Opernkomposition der Körber-Stiftung Hamburg und das Wilfried-Steinbrenner-Stipendium der Dramatiker-Union, zuletzt den „Kasseler Kunstpreis“ und den „Opernpreis für Opernkomposition der Körber-Stiftung Hamburg“ für „Thomas Chatterton“) – und nicht zuletzt ist der Auftrag zu einer Ballettmusik für die Lindenoper in Berlin zu nennen, deren Einstudierung Pintscher auch selbst übernahm (die erfolgreiche Uraufführung fand im April 1994 statt).
Wurzeln
Lesen sich die äußeren Daten mit einer gewissen Leichtigkeit, so hat Pintschers musikalische Sprache in den vergangenen sechs Jahren – seit der ersten breiteren öffentlichen Anerkennung für sein „Zweites Streichquartett“ – doch bereits mehrere, insgesamt drei markante Metamorphosen durchlaufen. Dies ist nun bei einem jungen Komponisten kaum verwunderlich, allein die Geschwindigkeit, mit der Pintscher seine künstlerischen Ziele verfolgt, erstaunt. Die musiksprachlichen Entwicklungen sind unüberhörbar und wohl am besten an der Faktur der verschiedenen Orchesterwerke nachzuvollziehen; ein Vergleich zwischen der Partitur von „La Metamorfosi di Narciso“ von 1992, dem Orchesterpoem „Dunkles Feld“ (1993) und den „Antiphonen für großes Ensemble, Choc“, die im Juni diesen Jahres bei der Kölner „Triennale“ ihre Uraufführung erlebten, zeigt sehr deutlich die unterschiedlichen Schreibweisen. Pintschers Tonsatz ist heute lichter, durchsichtiger, klangfarblich noch differenzierter, auch – im positiven Sinne – geschliffener geworden. Sicherlich steht, besonders seit der Arbeit an dem Musiktheaterwerk „Thomas Chatterton“ (nach einer Vorlage von Hans Henny Jahnn), seine intensive Beschäftigung mit der menschlichen Stimme hiermit in Verbindung: „Was die Veränderung des Tonsatzes durch die Arbeit mit der menschlichen Stimme angeht“, so stellt Pintscher heute fest, „daß sich der frühere Kompaktklang des Orchestersatzes (wie zum Beispiel in „Dunkles Feld“) nicht nur gelichtet hat, vielmehr ist er zunehmend spektral aufgebrochen, differenzierter, Konturen sind stärker – und ungemischter – ausgezeichnet, plastischer; ich versuche, die Wirklichkeit einer klanglichen Gestalt nicht mehr mit flankierenden Konkurrenten zuzuschütten oder zu relativieren, das kommt ja nur aus einer Unsicherheit gegenüber der Setzung heraus.“ Sehr viel deutlicher wird neuerdings ein perspektivisches Denken verfolgt, das Freiräume eröffnen, Ballast wegräumen, Räume und Felder eingrenzen und Staffagen „wegstellen“ soll. Zentraler Punkt dieser perspektivischen Entwicklungen und Überlegungen ist denn auch folgerichtig die Konzentration auf das klangliche Ereignis oder die klingende Gestalt. Der Tonsatz ist dabei nur Mittel zum Zweck: Handwerkszeug; aber wer über einen so versierten Tonsatz verfügt, kann sich glücklich schätzen.
Überschaut man die bisher drei deutlich unterschiedlichen kompositorischen Stile, so fällt dennoch zumindest ein Berührungspunkt auf: Allen Kompositionen gemein ist ein unverstelltes Ausdrucksbedürfnis, ein hoher Grad an geradezu radikaler Subjektivität und ein bemerkenswert ausgeprägtes ästhetisches Konzept. Es ist leicht zu erkennen, daß Pintscher die Frage des Ausdrucksgehaltes von Musik schlechthin im kompositorischen Prozeß – also in den klingenden Gestalten – stets neu reflektiert. Sie ist eine Art Gradmesser für den musikalischen Gehalt des authentischen Werkes: „Ich bekenne mich zu einer antizipatorischen Subjektivität. Es gibt keine anderen Möglichkeiten, ein primär impulsbestimmtes Setzen zu rechtfertigen.“ Der Impuls bestimmt also das Setzen des Tones. Das Subjekt ist immer erste und höchste Instanz bei der musikalischen Setzung, weshalb die Eigensprachlichkeit der geradezu körperlichen, expressiven Gestik von Pintschers Musik fast zwangsläufig einen überaus hohen Grad erreicht. Seine Musik versteht sich immer als „Sprachmusik“ im emphatischen Sinne.
Sprachmusik
Ähnlich wie der Gestaltbegriff bildet auch der der „Sprachmusik“ in Pintschers musikalischem Denken eine zentrale Kategorie. Er setzt ganz selbstverständlich eine Verbindung von Musik und Sprache einerseits, von Musik als Sprache andererseits, voraus. Verbindungen, die im Laufe der Musikgeschichte durchaus nicht immer so präsent waren. Heute läßt sich indes wieder leichter über Musik reden, die als Sprache gedacht und komponiert wird. Aber für Pintscher impliziert Sprachmusik mehr, mehr als unter Klangrede bisher verstanden wurde. In dem Werkzyklus „Monumento“, zu dem bisher vier auf Arthur Rimbaud verweisende Kompositionen zählen („Monumento 1“, „Devant une neige“, „De’part“ und „Choc“), ist so etwas wie der Kern dieses Gedankens zu erkennen, gleichzeitig aber ist Pintschers Verständnis von Sprachmusik ein ästhetischer und damit übergeordneter Terminus: „Der Begriff ist vieldeutig und zielt auf die ‚deklamatorische Art‘ einer dramaturgischen Anlage.“ So beinhaltet er vor allem vier Bestandteile: „Klangrede, Bewegungsform/Agogik, Erweiterung des Bereichs der Lautsprache im direkt angrenzenden Medium des Stimm- und Instrumentalklangs“ und schließlich die „Konzentration auf die ‚poetischen‘ Ausformungsmöglichkeiten klingenden Materials.“ Gerade der letztgenannte Punkt über eine anzustrebende Konzentration auf die „poetischen“ Potentiale einer musikalischen Gestalt deutet auf ein generelles Einverständnis, in dem Musik als poetische Klangrede aufgefaßt wird.
Das Poetische, das Schöne
Inwieweit damit auch eine Rehabilitierung des „Schönen“ impliziert ist, kann zunächst einmal offenbleiben. Tatsache ist jedoch, daß Pintscher das „Poetische“ und das „Schöne“ als interdependente Größen versteht. Freilich ist – wie es ein klassisches Verständnis aufgibt – das „Schöne“ auch eine unerreichbare Größe, ein Schein, eine Fiktion. Eine Illusion auch insofern, als der Künstler weiß, „das ästhetische Ideal niemals erreichen zu können.“ Aber gerade hieraus zieht Pintscher seine Kraft, „um sich weitertreiben zu lassen, die Netze nach innen hin auszulegen und in den seltenen Momenten des Glücks (in der zweiten Lebensrealität) ‚Unerhörtes‘ hervorzubringen. Ein Paradoxon: das Scheitern als Regenerator zum Neuaufbruch.“ (An dem Orchesterstück „Depart“ ließe sich dieser Gedanke geradezu paradigmatisch entwickeln.)
Hier könnte nun schnell der falsche Eindruck entstehen, als liege alle künstlerische Energie auf dem unverstellten musikalischen Ausdruck und keine auf der Konstruktion. Daß Pintscher beide Kategorien aber als zusammengehörig betrachtet, zeigen beispielsweise Werke wie „Tableau/Miroir“ oder „Dernier espace avec introspecteur“, in denen zwar der konstruktive Aspekt jeweils betont ist, ohne daß aber der sprechende Charakter der Musik gleichzeitig zurückträte. Es findet in diesen Kompositionen, an denen sich schließlich auch Pintschers Materialverständnis aufzeigen läßt, eher eine Akzentverschiebung hin zum Konstruktiven statt – die bei den Salzburger Festspielen 1997 uraufgeführten „Fünf Orchesterstücke“ bilden freilich einen Extrempunkt ab, weil hier das konstruktive Prinzip so deutlich wie nirgends sonst im Vordergrund steht. Wie nahezu in allen musikalischen Kategorien lassen sich auch hinsichtlich des Materialbegriffes in den vergangenen zwanzig Jahren geradezu umwälzende Veränderungen feststellen. Im Zuge einer postmodernen Öffnung führt „das Material“ – lange Zeit als Fetisch behandelt – auch in Pintschers Verständnis kaum noch gültige Konnotationen mit sich.
Materialfragen
Die Organisation des Materials ist darin wiederum bestimmt durch den Gestus oder die einzelnen Farbwertigkeiten eines Klanges: „Die Gestalt eines Klanges, einer Situation, eines Verlaufes, einer agogischen Bewegungsform wird ja niemals ‚herbeikonstruiert‘, ist nicht die zwingende Folge einer Materialkonstituierung Natürlich muß ich mir den ‚affizierten Klang‘ für die Umsetzung ins Schriftbild erarbeiten, abrastern, mich unentwegt ‚heranhören‘, setzen, prüfen, reflektieren, setzen, prüfen, reflektieren und sofort... Das Gesetzte wird erst in seiner erarbeiteten Endgestalt zum Material und kann erst jetzt in verschiedene Richtungen wirksam werden. Es gibt bei mir nie ein vom Kontext unabhängiges, vorgefertigtes RohmateriaL, welches in ständiger Mutation jederzeit wirksam werden kann.“ Eine solche, überaus durchdachte Arbeitsform kostet Zeit, hat aber den großen Vorteil, daß selbst kleinste stilistische Änderungen von Werk zu Werk möglich sind und das einmal Geschaffene immer wieder einer kritischen Durchsicht unterzogen wird. Generiert ist dieser vorderhand handwerkliche Aspekt aber durch eine ästhetische Prämisse, die noch einmal die unabdingbare Kraft des Poetischen in den Blick zieht. Das Technische ist aufgehoben im Ästhetischen. Denn Pintscher braucht in jedem Moment die Freiheit, „aus einer Vorordnung etwas herausschälen zu können, und das ist eben kaum möglich, wenn man vorher ein Konzept macht, selbst wenn es in sich vollkommen schlüssig ist.“ Diese Freiheit, so scheint es, verschafft dem Komponisten erst die Möglichkeit, auch und gerade in den „großen Gattungen“ ganz eigenständig und losgelöst von traditionellen Vorgaben arbeiten zu können. Selbst wenn er immer wieder für die „großen Gattungen“ – Orchesterwerke, Streichquartette, Werke für Musiktheater – komponiert, so ergibt sich doch hieraus keinerlei Zwang oder Verpflichtung, auch die formalen Vorgaben zu übernehmen.
Tradition
Natürlich ist die überkommene Gattung auch eine Art Traditionssiegel, das weiterhin Gültigkeit besitzt. Aber auch die Tradition hat für Pintscher nichts Bindendes, sondern gibt dem Komponisten vielmehr die Möglichkeit, in der Brechung – oder in der „Beatmung“, wie er selbst sagt – neue Kontexte erst hörbar zu machen. Die äußere Hülle der Gattung und der mit ihr verbundenen Form ist also nichts, die innere Brechung, die dann womöglich zu ganz neuen Bezugsetzungen durchstoßen kann – eine Sehnsucht, die sicherlich jeden Komponisten um-treibt –, hingegen ist alles. Die Form eines Orchesterstückes oder eines Streichquartettes ist natürlich geformtes Material, aber die Form selbst entsteht wie alle anderen Parameter bei Pintscher erst im kompositorischen Prozeß. So hat man wohl Form vor allem zu verstehen als Bewegungsform, als „eine gestische Disposition“, die die musikalischen Gestalten innerhalb eines internen Dramaturgieplans entwickelt und auseinander hervorgehen läßt. Daher läßt sich Pintschers Musik auch nach formalen Kriterien so schwer analysieren wenn man sich ihr allerdings nach dem ausformulierten Spannungsverlauf nähert und versucht, den Assoziationsstrom nachzuvollziehen, so findet man viel eher einen Zugang. Auch hier ergibt sich eine Vorherrschaft des Ausdrucks über die Konstruktion, die nie einem vorgeordneten Prinzip folgt: „Die Herausbildung einer Form ist aktiv gesteuert und sich passiv einstellend zugleich. Ein ‚Weg‘ wird erdacht, das ‚Abschreiten‘ jedoch ist jederzeit bereit und gewillt, auf den Moment zu reagieren und Unvorhergesehenes zu integrieren, dadurch einen Spannungsverlauf zu erzeugen.“ Gerade die jüngeren Arbeiten, exemplarisch mag die Orchesterkomposition „Choc“ genannt sein, sind überaus konzis entwickelte Bewegungsformen, in denen eine hohe Informationsdichte in das exponierte Material eingelagert ist, der Klang selber sich aber unheimlich frei entfalten kann. Auch hier: Sprachmusik jenseits der Sprache – imaginiert aus der Kraft des Poetischen.